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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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hatte, kurvte er drei Tage über staubige Sträßchen bis in ein abgelegenes Dorf aus kleinen Lehmhütten. Mit Hilfe einer vergilbten Fotografie der Familie Pacheco identifizierte er seine Klienten: Eine zähe Großmutter, eine schüchterne Witwe und vier vaterlose Kinder, eins davon blind. Sie hatten nie Schuhe getragen, lebten ohne fließendes Wasser und Strom und schliefen auf Strohsäcken am Boden.
    Willie überzeugte die Großmutter, von der die Familie mit fester Hand geführt wurde, daß sie allesamt nach Kalifornien kommen und vor Gericht auftreten sollten, und versprach, das nötige Geld zu schicken. Als er nach Mexiko-Stadt zurückkehren wollte, wurde ihm klar, daß fünfhundert Meter vom Dorf entfernt die Autobahn vorbeiführte, die keiner seiner Klienten je benutzt hatte: Deshalb waren auf der Wegbeschreibung nur Saumpfade erwähnt. Für den Rückweg brauchte er vier Stunden. Er trieb für die Familie Pacheco Visa für einen Kurzbesuch in den Vereinigten Staaten auf, verfrachtete alle sechs, schreckensstumm angesichts der Aussicht, sich in einem Metallvogel in die Lüfte zu erheben, in ein Flugzeug und brachte sie nach San Francisco. Dort mußte er feststellen, daß sie sich in keinem Motel wohl fühlten, einerlei wie bescheiden es sich ausnahm: Sie kamen mit Tellern und Besteck nicht zurecht – daheim aßen sie Tortillas – und hatten noch nie ein Wasserklosett gesehen. Willie mußte ihnen zeigen, wie man es benutzt, was bei den Kindern großes Gelächter und bei den zwei Frauen stummes Staunen hervorrief. Diese gigantische Stadt aus Beton, der dichte Verkehr und die vielen Leute, die ein unverständliches Kauderwelsch sprachen, schüchterten sie ein. Schließlich nahm eine andere mexikanischeFamilie die sechs unter ihre Fittiche. Die Kinder saßen vor dem Fernseher und schauten mit großen Augen das Wunder, während Willie der Großmutter und der Witwe zu erklären versuchte, wie in den USA eine Gerichtsverhandlung abläuft.
    Der große Tag kam, und Willie trat mit den Pachecos, die kein Wort Englisch verstanden, vor Gericht auf: vorneweg die Großmutter, in ihre Decke gehüllt und mit Sandalen, die ihr ständig von den breiten Bäuerinnenfüßen rutschten, und dahinter die Witwe mit den Kindern. In seinem Schlußplädoyer prägte Willie einen Satz, mit dem wir ihn noch Jahre später aufzogen: »Meine Damen und Herren Geschworene, wollen Sie zulassen, daß der Anwalt der Verteidigung diese arme Familie auf die Müllhalde der Geschichte wirft?« Aber selbst davon ließen sie sich nicht erweichen. Sie gaben den Pachecos nichts. »Weißen wäre das niemals passiert«, entrüstete sich Willie, bereit, in die nächste Instanz zu gehen. Er war wütend über den Ausgang der Verhandlung, aber die Familie nahm alles mit dem Gleichmut derer hin, die an Unglück gewöhnt sind. Sie erwarteten sehr wenig vom Leben und begriffen nicht, weshalb dieser Anwalt mit den blauen Augen sich die Mühe gemacht hatte, sie aus ihrem Dorf zu holen, um ihnen zu zeigen, wie ein Wasserklosett funktioniert.
    Als Trostpflaster dafür, daß er ihnen nicht hatte helfen können, lud Willie die Familie zu einem Ausflug nach Disneyland in Los Angeles ein, damit sie wenigstens eine angenehme Erinnerung an die Reise mit nach Hause nähmen.
    »Wozu in diesen Kindern Wünsche wecken, die sie doch nie erfüllen können?« versuchte ich ihm die Sache auszureden.
    »Sie sollen wissen, was die Welt zu bieten hat, damit sie sich anstrengen. Ich bin aus dem miesen Ghetto meiner Kindheit rausgekommen, weil ich gemerkt habe, daß das nicht alles ist.«
    »Du bist ein weißer Mann, Willie. Und, wie du selbst sagst, sind die Weißen im Vorteil.«
    Meine Enkel bekamen Routine darin, jede Woche ihr Zuhause zu wechseln, und gewöhnten sich daran, ihre Mutter und Tante Sally als Paar zu sehen. Es war kein außergewöhnliches Arrangement für Kalifornien, das in puncto innerhäusliche Beziehung einiges zu bieten hat. Celia und Nico hatten den Lehrerinnen und Erzieherinnen ihrer Kinder erklärt, was geschehen war, und waren damit beruhigt worden, bis die drei in die vierte Klasse kämen, hätten achtzig Prozent ihrer Mitschüler Stiefmütter oder -väter, lebten nicht selten bei drei Erwachsenen des gleichen Geschlechts, hätten Adoptivgeschwister einer anderen Hautfarbe oder wohnten bei ihren Großeltern. Familien wie aus dem Bilderbuch gebe es nicht mehr.
    Sally hatte die Kinder zur Welt kommen sehen und liebte sie sehr, und als ich sie Jahre später

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