Das Siegel der Tage
fragte, ob sie nicht eigene Kinder wolle, fragte sie zurück, wozu, sie habe doch schon drei. Sie ließ sich frohen Herzens auf ihre Rolle als Mutter ein, was mir mit meinen Stiefkindern nie gelungen ist, und schon deshalb habe ich immer Achtung für sie empfunden. Trotzdem war ich einmal so gemein, ihr vorzuwerfen, sie habe die Hälfte meiner Familie verführt. Wie konnte ich nur derart dummes Zeug reden? Sie war keine Sirene, die ihre Opfer anlockte, damit sie an den Klippen zerschellten – jeder war für sein Tun und seine Gefühle selbst verantwortlich. Und wer bin ich überhaupt, daß ich mir über andere ein Urteil erlaube? In meinem Leben habe ich schon manche Dummheit aus Liebe begangen, und wer weiß, ob ich nicht vor meinem Tod noch weitere begehe. Die Liebe ist ein Blitz, der uns unvermittelt trifft und uns verändert. So habe ich es mit Willie erlebt. Wie sollte ich Celia und Sally nicht verstehen können?
Damals bekam ich einen Brief von Celias Mutter, diemich beschuldigte, ich hätte ihre Tochter mit meinen teuflischen Ideen verdorben und ihre »gottgefällige Familie befleckt, in der ein Irrtum immer Irrtum und eine Sünde immer Sünde genannt wird«, anders als ich das in meinen Büchern und durch meine Lebensführung verbreiten würde. Auf den Gedanken, daß Celia lesbisch sein könnte, kam sie wohl nicht; Celia hatte es ja dummerweise selbst nicht gewußt, hatte geheiratet und drei Kinder bekommen, ehe sie es sich eingestehen konnte. Weshalb aber hätte ich meine Schwiegertochter dazu anstiften sollen, meiner Familie derart weh zu tun? Ich wunderte mich sehr, daß mir jemand so viel Einfluß zuschrieb.
»Ein Glück!« war das erste, was Willie sagte, nachdem er den Brief gelesen hatte, »mit der müssen wir nie wieder ein Wort reden.«
»Von außen betrachtet, wirken wir ziemlich dekadent, Willie.«
»Du weißt nicht, was in anderen Familie hinter geschlossenen Türen vorgeht. Der Unterschied ist nur, daß bei uns alles ans Licht kommt.«
Mittlerweile war ich wegen meiner Enkel etwas beruhigt, denn ihre Eltern kümmerten sich liebevoll, in beiden Haushalten galten mehr oder weniger dieselben Regeln des Miteinanders, und die Schule gab ihnen Halt. Sie würden nicht traumatisiert, sondern verwöhnt enden. Alles wurde ihnen mit solcher Offenheit erklärt, daß die Kleinen zuweilen nicht fragten, weil die Antwort ausführlicher werden konnte, als ihnen lieb war. Ich gewöhnte mir an, sie fast täglich zu sehen, wenn sie bei Nico waren, und sie einmal in der Woche bei Celia und Sally zu besuchen. Nico war standhaft und konsequent, bei ihm herrschten klare Regeln, aber er war auch sehr liebevoll und geduldig mit seinen Kindern. Häufig überraschte ich ihn Sonntag morgens mit allen dreien schlafend in seinem Bett, und nichts rührte mich mehr, als wenn er mir mit den beiden Mädchen auf demArm, und Alejandro an seinen Beinen hängend, die Tür öffnete. Bei Celia ging es entspannt zu, gab es Unordnung, Musik und zwei kratzbürstige Katzen, die ihre Haare über die Polstermöbel verteilten. Meistens bauten die Kinder im Wohnzimmer ein Zelt aus Wolldecken und kampierten dort die ganze Woche. Es war wohl Sally, die dafür sorgte, daß die Familie nicht aus den Fugen geriet, ohne sie hätte Celia in dieser turbulenten Zeit wahrscheinlich Schiffbruch erlitten; Sally hatte ein sicheres Gespür für die Bedürfnisse der Kinder, erahnte Schwierigkeiten, ehe sie auftraten, und hielt ihre schützende Hand über die drei, ohne sie einzuengen.
Ich reservierte »besondere Tage« für jedes meiner Enkelkinder, an denen sie aussuchen durften, was sie mit mir unternehmen wollten. So kam ich dreizehnmal in den Genuß des Zeichentrickfilms Tarzan und sah einen anderen, der Mulan hieß, siebzehnmal – ich konnte die Dialoge vorwärts und rückwärts mitsprechen. Die drei wollten immer dasselbe an ihrem besonderen Tag: Pizza, Eiscreme und Kino, nur einmal interessierte Alejandro sich für die als Nonnen verkleideten Männer, die er im Fernsehen gesehen hatte. Es handelte sich um eine Gruppe von Homosexuellen, Theaterleute, die in Nonnentracht und geschminkt durch die Straßen stolzierten, um Geld für wohltätige Zwecke zu sammeln. Die Geschmacklosigkeit bestand darin, daß sie das während der Karwoche taten. Die Nachrichten brachten die Meldung, weil die katholische Kirche ihre Gläubigen zu einem Tourismusboykott gegen San Francisco aufgerufen hatte, da die Stadt ein Sündenpfuhl wie Sodom und Gomorrha sei. Ich
Weitere Kostenlose Bücher