Das Siegel der Tage
unterschrieben, und das Datum lag sieben Monate zurück. Da fiel mir wieder ein, daß ich zum »Tag der Großeltern« mit meinen Enkeln in der Schule gewesen war und die Lehrerin alle gebeten hatte, einen Entschluß oder Wunsch aufzuschreiben und in einen Umschlag mit der eigenen Adresse zu stecken, den sie dann später wegschicken wollte. Daran ist nichts sonderbar. Sonderbar ist nur, daß der Brief eben eintraf, als ich mich nach einem Rat von dir sehnte. Es geschieht zu viel, für das es keine Erklärung gibt. Daß es Geistwesen geben könnte, ob real, erträumt oder im übertragenen Sinn, ist eine Vorstellung meiner Großmutter mütterlicherseits gewesen. DieserFamilienzweig war immer originell und hat mir Stoff für mein Schreiben geliefert. Das Geisterhaus wäre niemals entstanden, hätte meine Großmutter mich nicht überzeugt, daß die Welt ein Ort voller Mysterien ist.
Die familiäre Situation klärte sich auf mehr oder weniger normale Art. Normal für Kalifornien. In Chile hätte der Skandal es auf die Klatschseiten der Zeitungen schaffen können, zumal Celia es für notwendig hielt, ihre Entscheidung auszuposaunen und die Vorteile gleichgeschlechtlicher Liebe zu predigen. Sie empfahl aller Welt, es auszuprobieren, es sei viel besser als Heterosexualität, und sie machte sich über die Männer und ihre launenhaften Anhängsel lustig. Ich mußte sie daran erinnern, daß sie einen Sohn hatte, den abzuwerten nicht angebracht war. Aber ich selbst redete auch zu viel, wir waren in aller Munde, die Gerüchte überschlugen sich. Leute, die wir kaum kannten, sprachen uns ihr Beileid aus, als wären wir in Trauer. Wahrscheinlich wußte ganz Kalifornien Bescheid. Zu viel Trara. Am Anfang hätte ich mich am liebsten in einer Höhle verkrochen, aber Willie redete mir zu, daß nicht die offenliegende Wahrheit uns verwundbar macht, sondern die Geheimnistuerei. Mit der Scheidung von Nico und Celia war die Sache nicht ausgestanden, waren wir doch weiter in ein Knäuel aus Bindungen verstrickt, die sich zwar stetig änderten, aber nicht gekappt wurden, weil die drei Kinder uns auf Gedeih und Verderb zusammenhielten. Nico und Celia verkauften das Haus, das wir so mühsam ergattert hatten, und teilten das Geld untereinander auf. Die Kinder würden eine Woche bei ihrer Mutter und die nächste bei ihrem Vater verbringen, also fortan aus dem Koffer leben, was allemal besser war, als die gerechte Lösung, sie in der Mitte durchzuschneiden. Celia und Sally fanden ein Häuschen, renovierungsbedürftig, aber ausgezeichnet gelegen, und richteten sich nach Kräften ein. Anfangs hatten sie es sehr schwer, weil ihreeigenen Familien und etliche Freunde ihnen den Rücken kehrten. Sie waren fast ganz auf sich allein gestellt, hatten wenig Geld und fühlten sich bewertet und abgeurteilt. Ich blieb in ihrer Nähe und versuchte ihnen zu helfen, oft genug hinter Nicos Rücken, weil der nicht begriff, weshalb ich weiter an meiner früheren Schwiegertochter hing, die der Familie so weh getan hatte. Celia hat mir erzählt, daß sie fast jeden Tag weinte, und Sally mußte sich Vorwürfe darüber anhören, daß sie eine Familie zerstört hatte, aber wie fast immer kam der Aufruhr im Lauf der Monate zum Erliegen.
Nico fand ein älteres Haus zwei Straßen von uns entfernt und brachte es mit neuen Fußböden, Fenstern und Bädern auf Vordermann. Es besaß einen von zwei mächtigen Palmen gekrönten Garten und Zugang zu einem kleinen See, an dem Wildgänse und Enten brüteten. Dort wohnte er mit Celias Bruder, der weiß der Himmel warum nicht zu seiner Schwester ziehen wollte und bei Nico für ein Jahr Unterschlupf fand. Der Junge wußte noch immer nichts mit seinem Leben anzufangen, vielleicht weil ihm die Arbeitserlaubnis fehlte und sein Touristenvisum, das er schon mehrmals verlängert hatte, bald endgültig ablaufen würde. Er war oft niedergeschlagen oder schlecht gelaunt, und wenn er rot sah, mußte Nico diesen früheren Schwager und weiterhin Hausgast mehr als einmal harsch in die Schranken weisen.
Celia und Sally hatten flexible Arbeitszeiten und daher weniger Umstände, die Kinder während der Wochen, wenn sie an der Reihe waren, zu versorgen als Nico, der allein war und zur Arbeit weit fahren mußte. Ligia, die Nicaraguanerin, die Nicole in den ersten Monaten ihres untröstlichen Brüllens im Schaukelstuhl gewiegt hatte, half ihm, und sollte das noch etliche Jahre lang tun. Sie holte meine Enkel von der Schule und dem angeschlossenen
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