Das Siegel der Tage
Kindergarten ab, den auch Nicole schon besuchen konnte, brachte die dreinach Hause und blieb bei ihnen, bis ich, wenn ich konnte, vorbeikam oder Nico zu Hause war, der versuchte, in der Woche, wenn er die Kinder hatte, früher Feierabend zu machen und die Stunden in den anderen Wochen auszugleichen. Ich habe Nico nie zerstreut oder ungeduldig gesehen, im Gegenteil, er war ein fröhlicher und gelassener Vater. Durch sein Organisationstalent hielt er den Laden am Laufen, aber er stand im Morgengrauen auf und ging sehr spät und hundemüde ins Bett. »Du hast nicht eine Minute für dich allein, Nico«, sagte ich einmal zu ihm, worauf er meinte: »Doch, Mama, auf dem Weg zum und vom Büro habe ich zwei Stunden allein und still im Auto. Je mehr Verkehr, desto besser.«
Zwischen Nico und Celia war die Gereiztheit mit Händen zu greifen. Nico verteidigte, so gut es ging, sein Terrain, aber um ehrlich zu sein, war ich ihm bei dieser undankbaren Aufgabe keine Hilfe. Als er die Klatschgeschichten und kleinen Illoyalitäten schließlich leid war, bat er mich, meine Freundschaft zu seiner Ex-Frau aufzukündigen, weil er, wie die Dinge standen, an zwei Fronten zu kämpfen hatte. Als Vater der Kinder fühlte er sich abgewertet und ohnmächtig und noch dazu von der eigenen Mutter überrollt. Celia kam zu mir, wenn sie etwas brauchte, und ich fragte nicht bei ihm nach, ehe ich etwas tat, wodurch ich manchmal ungewollt Regeln sabotierte, auf die die beiden sich geeinigt hatten und die Celia im nachhinein änderte. Außerdem log ich ihn an, um mich nicht rechtfertigen zu müssen, und er kam natürlich immer dahinter; etwa weil die Kinder ihm sofort erzählten, daß sie mich am Tag zuvor bei ihrer Mutter gesehen hatten.
Vom Gang der Ereignisse überfordert, kehrte Großmutter Hilda nach Chile zu ihrer einzigen Tochter Hildita zurück. Nicht ein kritisches Wort kam ihr über die Lippen; getreu ihrer Devise, Konflikten aus dem Weg zu gehen, hielt sie mit ihrer Meinung hinterm Berg, aber von Hildita weißich, daß sie alle drei Stunden eine ihrer geheimnisvollen grünen Glückspillen schluckte; die wirkten Wunder, und als Hilda im Jahr darauf wieder nach Kalifornien kam, konnte sie zu Celia und Sally so herzlich sein wie eh und je. »Diese Mädchen sind so gute Freundinnen, es ist eine Freude zu sehen, wie sie sich vertragen«, wiederholte sie, was sie lange zuvor zu mir gesagt hatte, als noch niemand ahnte, was auf uns zukam.
Eine arg gebeutelte Familie
In der ersten Zeit telefonierte ich heimlich im Badezimmer, um mit Celia konspirative Treffen zu vereinbaren. Willie hörte mich wispern und argwöhnte schon, ich hätte einen Liebhaber, ein höchst schmeichelhafter Verdacht, denn man mußte mich nur nackt sehen, um zu wissen, daß ich mich niemandem außer ihm zeigen würde. Aber eigentlich hatte mein Mann für Eifersuchtsattacken keine Kapazitäten frei. Damals war er mit mehr Fällen denn je betraut, und in der Streitsache des jungen Mexikaners Jovito Pacheco, der in San Francisco von einem Baugerüst gestürzt war, wollte er sich noch immer nicht geschlagen geben. Als die Versicherung eine Entschädigung verweigerte, zog Willie vor Gericht. Die Auswahl der Geschworenen sei entscheidend, sagte er, die Feindseligkeit gegenüber Zuwanderern aus Lateinamerika habe zugenommen, und es sei schier unmöglich, wohlmeinende Geschworene zu finden. In seinen langen Jahren als Anwalt hatte Willie gelernt, stark übergewichtige Personen als Geschworene abzulehnen, weil die aus unerfindlichen Gründen immer gegen ihn stimmten, und die Rassisten und Fremdenhasser auszusortieren, die es von jeher gegeben hatte, deren Zahl aber von Tag zu Tag stieg. Feindseligkeiten zwischen Anglos und Mexikanern haben in Kalifornien eine lange Tradition, aber 1994 wurde ein Gesetz verabschiedet, die »Proposition 187«, das die Ressentiments noch schürte. Die Nordamerikaner begeistern sich für den Gedanken der Einwanderung, auf ihm gründet der amerikanische Traum – ein armer Schlucker, der mit einem Pappkoffer an diesen Küsten landet, kann es zum Millionär bringen –, aber sie verabscheuen die Einwanderer. Die Ablehnung, die auch Skandinavier, Iren, Italiener, Juden, Araber und andere Einwanderererfahren haben, richtet sich verstärkt gegen Menschen dunkler Hautfarbe und besonders gegen Latinos, weil die zahlreich sind und sich nicht aufhalten lassen. Willie flog nach Mexiko-Stadt, mietete ein Auto, und genau wie in dem Brief beschrieben, den er bekommen
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