Das Siegel der Tage
bedienen lernte, obwohl etliche von ihnen mehrere Sprachen beherrschten und eine solide Schulausbildung besaßen, und beschloß sodann, eine Gruppe von Beratern für die Leitungsebene sei unverzichtbar. Er suchte sie unter seinen Freunden aus und gewährte ihnen ein schönesGehalt. Es dauerte kein Jahr, da geriet Tabras Unternehmen ins Trudeln wie Willies Kanzlei, weil mehr Geld abfloß, als eingenommen wurde, und eine Schar Angestellter bezahlt werden mußte, deren Tätigkeit allen rätselhaft blieb. Dazu kam eine landesweite wirtschaftliche Flaute und der Trend zu minimalistischen Schmuckstücken anstelle des großen Ethnoschmucks, den Tabra herstellte; es gab Diebstähle im Unternehmen und Mißmanagement. Diesen Moment wählte der Geschäftsführer, um sich aus dem Staub zu machen, und Tabra blieb auf einem Berg Schulden sitzen. Er fand eine Stelle als Berater in einem anderen Unternehmen, auf Betreiben derselben Leute, die er in seinem Führungsstab beschäftigt hatte.
Fast ein Jahr kämpfte Tabra gegen die Gläubiger und den Druck der Banken, aber schließlich mußte sie sich mit dem Konkurs abfinden. Sie verlor alles. Sie verkaufte ihr malerisches Haus im Wald für viel weniger, als sie dafür bezahlt hatte. Was sie besaß, bekamen die Banken, angefangen bei ihrem Lieferwagen bis hin zum Maschinenpark ihrer Werkstatt und dem überwiegenden Teil der Rohmaterialien, die sie ein Leben lang zusammengetragen hatte. Monate zuvor hatte sie mir Flakons voller Glasperlen und Halbedelsteine geschenkt, die im Keller darauf warteten, daß sie mir zeigte, was ich daraus machen konnte; wie hätte ich ahnen sollen, daß sie Tabra am Ende dazu dienen würden, wieder zu arbeiten. Willie und ich räumten dein ehemaliges Zimmer im Erdgeschoß aus, strichen es und boten es ihr an, damit sie wenigstens ein Dach über dem Kopf und eine Familie hatte. Sie zog mit den paar Möbeln und Kunstobjekten, die sie hatte retten können, zu uns. Wir besorgten einen großen Tisch, und an ihm fing sie wie dreißig Jahre zuvor noch einmal an, ihre Schmuckstücke einzeln von Hand zu fertigen. Fast täglich gingen wir spazieren und sprachen über das Leben. Sie beklagte sich nie und verfluchte auch den Geschäftsführer nicht, der sie ruiniert hatte. »Ich bin selberschuld, daß ich ihn angestellt habe. So etwas passiert mir nicht noch mal«, war alles, was sie dazu sagte. In den Jahren, in denen ich sie nun kenne, und das sind viele, ist meine Freundin krank gewesen, ist enttäuscht worden, hat all ihr Geld verloren und in tausenderlei Schwierigkeiten gesteckt, aber verzweifelt habe ich sie nur gesehen, als ihr Vater starb. Lange weinte sie um diesen geliebten Menschen, ohne daß ich ihr hätte helfen können. In der Zeit ihres wirtschaftlichen Ruins hingegen blieb sie ungerührt. Mit Humor und Courage schickte sie sich an, denselben Weg zurückzulegen, den sie in jungen Jahren schon einmal gegangen war, überzeugt, was sie mit zwanzig geschafft hatte, werde ihr mit fünfzig erneut gelingen. Zum Glück war sie in etlichen Ländern bekannt, wer sich für Ethnoschmuck interessiert, kennt ihren Namen, Galerien in Japan, England, der Karibik und an vielen anderen Orten zählen zu ihren Kunden, und es gibt einige leidenschaftliche Sammler, die schon über fünfhundert Stücke erworben haben und immer noch weitere kaufen.
Tabra erwies sich als idealer Hausgast. Aus Höflichkeit aß sie, was man ihr auf den Teller tat, und ohne unsere täglichen Wanderungen wäre sie kugelrund geworden. Sie war diskret, leise und gut gelaunt und amüsierte uns obendrein mit ihren Ansichten.
»Wale sind Machos. Ist die Walkuh empfängnisbereit, wird sie von Männchen eingekreist und vergewaltigt«, erzählte sie uns.
»Man kann Walfische nicht nach christlichen Moralvorstellungen beurteilen«, widersprach ihr Willie.
»Moral ist nicht teilbar, Willie.«
»Die Yanomami-Indianer im Amazonasurwald rauben die Frauen anderer Stämme und leben polygam.«
In diesem Fall, schloß Tabra, die großen Respekt vor Urvölkern hegt, könnten nicht dieselben moralischenMaßstäbe gelten wie für Wale. Und die politischen Diskussionen erst! Willie ist ein sehr fortschrittlich denkender Mensch, aber neben Tabra wirkt er wie ein Taliban. Tabras Konkurs fiel damit zusammen, daß Alfredo López Gefiederte Echse wieder einmal unverhofft von der Bildfläche verschwand, und um sich bei Laune zu halten, kehrte unsere Freundin zu ihrer Gewohnheit zurück, sich über Kontaktanzeigen in der
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