Das Siegel der Tage
begonnen hatte. Vier Jahre hatte ich es vor mir hergeschoben. Ich wußte bereits, wie es heißen sollte, Fortunas Tochter , hatte einen Berg historischer Artikel gelesen und sogar schon ein Bild für den Umschlag ausgewählt. Die Hauptperson war eine junge Chilenin, Eliza Sommers, etwa 1833 geboren, die ihrem vom Goldfieber gepackten Geliebten nachreist. Für ein junges Mädchen war das zu jener Zeit ein tollkühnes Abenteuer, aber ich bin überzeugt, daß Frauen aus Liebe zu wahren Heldentaten fähig sind. Eliza wäre es im Traum nicht eingefallen, des Goldes wegen um die halbe Welt zu reisen, aber sie zögert nicht, es wegen eines Mannes zu tun. Aus meinem Vorhaben, in Ruhe zu schreiben, wurde jedoch nichts, weil Nico erkrankte. Um ihm zwei Weisheitszähne zu ziehen, war eine kurze Vollnarkose nötig, was für Menschen mit Porphyrie riskant ist. Nach der OP stand er vom Behandlungsstuhl auf, ging bis zur Anmeldung, wo Lori auf ihn wartete, und spürte noch, wie ihm schwarz vor Augen wurde. Seine Knie sackten weg, wie ein gefällter Baum stürzte er nach hinten und schlug mit Nacken und Rücken gegen die Wand. Bewußtlos blieb er am Boden liegen. Das war der Beginn monatelangen Leidens für ihn und Bangens für den Rest der Familie, vor allem für Lori, die nicht genau wußte, was vorging, und für mich, die ich es zu genau wußte.
Meine schlimmsten Erinnerungen bauten sich in mir zu hohen Brechern auf. Ich hatte mir eingebildet, nachdem ich dich verloren hatte, könne nichts mich mehr übermäßig treffen, aber die verschwindend geringe Möglichkeit, daß dem Kind, das mir geblieben war, etwas Ähnlicheswiderfahren könnte, warf mich aus der Bahn. Ich spürte eine Last auf der Brust, ein Felsengewicht, das mich erdrückte, mir den Atem nahm. Ich fühlte mich ausgeliefert, dünnhäutig, hätte, wo ich ging und stand, in Tränen ausbrechen können. Nachts, wenn alle schliefen, hörte ich ein Raunen zwischen den Wänden, in den Türrahmen war ein Jammern gefangen, ein Seufzen in den leeren Zimmern. Wahrscheinlich war es meine eigene Angst. Überall in unserem Haus lauerte der in dem langen Jahr deines Sterbens gesammelte Schmerz. Ein Bild hat sich mir für immer ins Gedächtnis gebrannt. Ich will in dein Zimmer gehen, da sehe ich deinen Bruder, mit dem Rücken zu mir, wie er so selbstverständlich deine Windel wechselt wie bei einem seiner Kinder. Er spricht mit dir, als könntest du ihn hören, erzählt von den Zeiten in Venezuela, als ihr beide noch Teenies wart und du ihm den Rücken freihieltest, wenn er etwas angestellt hatte, und ihm aus der Patsche halfst, wenn er irgendwo Ärger bekam. Nico bemerkte mich nicht. Ich stahl mich aus dem Zimmer und schloß leise die Tür. Dieser Sohn ist immer bei mir gewesen, wir haben zusammen den elementarsten Schmerz erlebt, überwältigende Mißerfolge, flüchtige Triumphe; wir haben uns gestritten und einander geholfen, kurz, ich glaube, daß nichts uns trennen kann.
Wochen vor dem Zwischenfall beim Zahnarzt war Nico zur jährlichen Kontrolluntersuchung gewesen, und seine Porphyrie-Werte waren nicht gut, hatten sich seit dem Vorjahr verdoppelt. Nach dem Zusammenbruch stiegen sie in beunruhigender Weise weiter, und Cheri Forrester, die ihn stets im Auge behielt, zeigte sich besorgt. Zu den anhaltenden Schmerzen im Rücken – er konnte die Arme nicht heben und sich nicht bücken – kam die Belastung durch seine Arbeit, das hundsmiserable Verhältnis zu Celia, das Hickhack mit mir, weil ich es oft nicht schaffte, ihn, wie ich es mir vorgenommen hatte, in Ruhe zu lassen, und eine so bleierne Müdigkeit, daß er im Stehen einschlief. SeineStimme war nur noch ein Flüstern, als ginge selbst diese Anstrengung über seine Kräfte. Porphyrie-Schübe werden manchmal von persönlichkeitsverändernden Stimmungsschwankungen begleitet. Nico, der mit seiner heiteren Gemütsruhe in normalen Zeiten dem Dalai Lama Konkurrenz machen kann, kochte jetzt oft innerlich vor Zorn, weil er sich aber außergewöhnlich gut zu beherrschen weiß, merkte man das kaum. Er weigerte sich, über seine Krankheit zu reden, wollte nicht mit Samthandschuhen angefaßt werden. Also beschränkten sich Lori und ich darauf, ihn zu beobachten, und fragten nicht nach, um ihm nicht noch mehr zu nerven, baten ihn jedoch, wenigstens seine Arbeit aufzugeben, für die er weit fahren mußte, ohne daß sie ihm Spaß gemacht hätte oder eine Herausforderung war. Wegen seiner besonnenen Art, seines Gespürs und seiner
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