Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
behandeln und immer wieder in solch tiefe Verzweiflung stürzen? Wer war dieser Pater, dass er sich einbildete, Richter über seine Mitreisenden zu sein? Dagegen schien ihr Bruder Rupert in diesem Augenblick fast sympathisch.
»Dann nicht«, sagte das Mädchen schulterzuckend und eilte dem Bettelmönch nach. »Wir sehen uns hier auf dem Kirchplatz wieder!«
Als sie kaum eine Stunde später den Platz zwischen Pilgerherberge und der Kathedrale wieder erreichten, sahen sie den Ritter de Crest und Pater Bertran etwas abseits stehen. An den Gesten des hageren Augustiners konnte man deutlich erkennen, in welchen Bahnen das Gespräch verlief.
»Aha, jetzt ist Raymond dran, seine Predigt über Pilgerfahrt und Sünde zu hören«, schmunzelte der Bettelmönch. »Der Dämon des Weines, ein dienlicher Gesell des Teufels!«
Juliana nickte. Anders als André ließ sich der blonde Ritter allerdings nicht so leicht einschüchtern. Sie hörte seine Stimme über den Platz dröhnen, auch wenn sie die Worte nicht verstand. Als er die Begleiter kommen sah, verstummten beide und traten auf sie zu.
»Wo ist André?«, fragte das Mädchen und sah sich suchend um.
»Ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht«, fauchte Pater Bertran, dessen Wangen gerötet waren. »Gehen wir!«
Juliana öffnete den Mund, um zu protestieren, da trat der junge Mann aus der Kathedrale.
Die Reisenden verließen die Stadt mit ihren sieben Toren und den mehr als drei Dutzend Manteltürmen und schritten auf die Brücke zu, die der Heilige gebaut hatte. Der Río Oja war zwar über den Sommer fast ausgetrocknet, dennoch war das Bauwerk des Heiligen, das seit mehr als zweihundert Jahren das weite Tal überspannte, ein eindrucksvoller Anblick. Vierundzwanzig Bogen zählte Juliana, während sie hinter den beiden so verschiedenen Mönchen über die Brücke schritt. Welch Schauspiel musste es sein, wenn die braunen Wassermassen aus den Bergen sich hier nach dem Winter herabwälzten.
Unter einem grau verhangenen Himmel, von böigem Wind getrieben, wanderten sie weiter. Meist stieg der Weg auf der sanft
geneigten Ebene leicht bergan, die immer wieder von Bächen gekerbt wurde. Felder und ausgedorrte Brachflächen wechselten sich mit lichten Eichenhainen ab. Im Westen schied sich eine hohe Bergkette vom Grau der Wolken.
»Müssen wir dort hinüber?«, fragte Juliana.
»Ich glaube schon«, vermutete Bruder Rupert.
Pater Bertran, der, seit sie Santo Domingo verlassen hatten, schweigend vorangeschritten war, drehte sich um.
»Das sind die Ocaberge. Eine wilde Gegend voll von üblem Gesindel. Über sie müssen wir hinüber, bevor wir die Stadt Burgos erreichen. Wenn Gott es will, dann werden wir den Pass morgen unbeschadet überschreiten und am dritten Tag in Burgos sein. Es geht hoch hinauf, und wir können nur beten, dass sich das Wetter bessert.«
Juliana unterdrückte ein Stöhnen und zwang sich weiterzugehen. Sie hatten die gepflasterte Straße verlassen. Zum Glück wurde der Pfad nun trockener. Sie suchte sich die mit Gras bewachsenen Wegränder, auf denen sie leichter vorankam. Erde und Felsen waren nicht länger rot. Nun ragten hellgraue Bänder aus den Böschungen, und der Ackerboden war von blassem Braun.
Sie querten eine stark befestigte Stadt, über der auf einem Hügel eine imposante Burg stand. André murmelte zwar, dass er Hunger habe, traute sich aber nicht, seinen Wunsch, um ein Stück Brot zu bitten, laut zu äußern. So musste er sich ein Bachtal und einen Aufstieg lang gedulden, bis sie Redecilla erreichten. Das erste Spital, das in Sicht kam, war eines der Häuser von San Lázaro, um das jeder Mensch, der nicht von fiebrigen Krankheiten geplagt wurde oder an entstellenden Ausschlägen litt, einen Bogen schlug. Gegenüber jedoch fanden sie ein kleines Spital, in dem ihnen ein Bruder in zerschlissener Kutte zu essen gab. Lange hielten sie sich nicht auf. Pater Bertran trieb sie an. Sie würden heute noch einige Hänge erklimmen müssen, wollten sie morgen den Pass überwinden. Auf der nun wieder gepflasterten Straße schritten sie voran. Der Augustinerpater
blieb stehen und deutete mit seinen knochigen Fingern die Straße entlang.
»Bleibt einmal stehen und staunt. Seht mit offenen Augen, was der Heilige alles geschaffen hat!«
»Santo Domingo?«, fragte Juliana, die die Gelegenheit einer Verschnaufpause gern aufgriff.
Der Pater nickte. »Ja, er hat die Straße hier entlanggeführt und unermüdlich mit seinen Schülern für die
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