Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
Zu ihrer Erleichterung wurde sie bald schon fündig und erwarb ein ganzes Bündel alter Leinenstreifen für zwei kleine Kupfermünzen. Die Suche nach einem Ort, an dem sie sich ein paar davon unauffällig in ihre Bruech stecken konnte, war schon schwieriger. Sie lief kreuz und quer durch die immer enger werdenden Gassen, bis sie endlich einen verlassenen Hof mit einem Bretterverschlag fand, in den sie sich für einige Augenblicke zurückzog.
Anscheinend hatte Juliana, ohne es zu merken, einen großen Bogen um die Kathedrale geschlagen und näherte sich nun von Südwesten dem großen Platz, der bis zum südlichen Stadttor reichte, das wie die Kirche den Namen Santa María trug. Von hier unten gesehen reckte sich die Kathedrale beeindruckend in die Höhe, unzählige Treppen führten zum Südportal hinauf. Während diese Fassade und der anschließende Kreuzgang bereits vollendet schienen, war die ganze Westseite bis zu den beiden Turmstümpfen hinauf von Gerüsten umhüllt. Der Platz hallte vom Klang unzähliger Hämmer und Meißel wider. Mit offenem Mund blieb das Mädchen stehen. So etwas hatte sie noch nicht gesehen. Langsam ging sie weiter, zwischen Steinblöcken und Gruben hindurch, in denen Zement gemischt
wurde. In einer Ecke wurden die angelieferten Mauerblöcke nachbearbeitet, ein Stück weiter entstanden Bogenteile, Kapitelle und Maßwerk. Welch hohe Kunst war es, aus unförmigen Quadern feine Leisten, Blätter, Vögel oder auch die bösen Fratzen der Wasserspeier herauszuarbeiten. Juliana blieb stehen und beobachtete einen Steinmetzgesellen, der sich mühte, einen Block zu glätten. Zweimal glitt der Meisel ab. Ein Splitter brach von der Kante. Sein Meister stürmte herbei und versetzte ihm eine Ohrfeige. Er riss ihm das Werkzeug aus der Hand und behob den Schaden mit ein paar Hammerschlägen. Dann eilte er zu seinem Werkstück zurück, das vielleicht einmal einen Heiligen oder einen der Apostel darstellen würde. Grob konnte man bereits den Kopf und ein in Falten gelegtes Gewand erkennen. Juliana dachte an La Puent de la Reyna zurück und an den Bettler, den sie dort vor der Kirche getroffen hatte. Wie war sein Name gewesen? Sebastian, ja, der Baumeister, der ihr von Burgos erzählt hatte. Hier auf diesem Platz war also auch er gesessen und hatte, wie Zauberei, aus Steinen Menschen, Pflanzen und Muster geformt, bis ein zusammenstürzendes Gerüst sein Leben zerstörte.
Das Mädchen ging an der Kathedrale entlang und sah hinauf zu den Rosetten und Statuen. Gern hätte sie gewusst, ob Sebastian einen Teil von ihnen geformt hatte. Ob sie ihn wiedersehen würde? Auf ihrem Rückweg nach Hause? Würde sie dann an des Vaters Seite wandern? Juliana beschloss hineinzugehen und zu beten. Sie stieg die vielen Stufen zum Südportal hinauf und betrat das Querschiff.
Obwohl die Kathedrale von außen noch eine riesige Baustelle war, wurde sie schon dutzende von Jahren genutzt. Ihre Weihe lag fast fünfzig Jahre zurück. Juliana umrundete das Kirchenschiff und trat in eine kleine, düstere Seitenkapelle. Sie kniete vor dem Altar nieder, auf dem nur eine hölzerne Figur der Muttergottes stand. Hier konnte sie beten und fühlte sich Gott ein wenig näher. Draußen unter der hohen Decke des Kirchenschiffs war sie so klein und unbedeutend, dass sie sich nicht
vorstellen konnte, dass ihre Stimme bis zu Gott vordrang. Juliana schloss die Augen und beschwor das Bild des Vaters herauf. Sie wollte ihn sehen, wie er lachte, wie er auf seinem Pferd saß, den Falken auf der Faust, aber sie hatte immer nur das eine Bild vor Augen: wie er sich über den toten Templer beugte, das blutige Messer in Händen.
Die Sonne näherte sich dem Horizont, als Juliana das Tor erreichte. Es war mehr ein provisorischer Mauerdurchbruch am Ende der Straße als ein befestigtes Tor. Rund um sie strebten die Menschen zu ihren Häusern oder auf die Herbergen zu, in denen sie die Nacht zubringen wollten. Vor ihr ging eine Gruppe Juden in ihren schwarzen Gewändern und mit dem Käppchen auf dem Hinterkopf. Noch vor dem Stadttor bogen sie nach links in die Judería ein, die, nach ihrer Ausdehnung zu schätzen, eine ansehnliche Zahl Familien beherbergte. Vor dem Tor warteten ein paar Fuhrmänner auf ihren Karren darauf, von den Wächtern durchgewinkt, zu werden. Eine Gruppe von Männern in schwarzen Kutten zwängte sich vorbei und verschwand unter dem Tor. Das Mädchen ließ noch einmal den Blick schweifen, bis er an einem hölzernen Schild hängen blieb.
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