Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
schimpfliche
Strick ist den Gewöhnlichen und Unfreien vorbehalten – es sei denn, die Tat ist besonders unehrenhaft.
Wer bestimmt über die Strafe? Der Herr des Landes oder die Kirche? Im Land des Bischofs von Speyer oder Würzburg ist das einfach. Sie haben nur einen Herrn, aber wie ist das hier? Wem steht die Entscheidung zu? Wer ist mächtiger? König oder Kirche? Die Templer sind mit ihrem Orden direkt dem Heiligen Vater unterstellt. Ihnen kann ein Landvogt keinen Prozess machen – ja selbst der Kaiser darf nicht Hand an sie legen. In diesem Fall sind jedoch nicht die Templer die Beschuldigten, sondern die Opfer der Tat. Müssen sie dann nicht eine Bestrafung durch die Kirche begrüßen? Oder liegt ihr Missmut darin, dass der Dekan, ein Freund und Gönner des Vaters, der ihm wohl gesonnen ist, die Entscheidung an sich gezogen hat. Wird der Franzose von so kleinlichen Gefühlen wie blinder Rachsucht beherrscht? Trügt der weiße Mantel, der Symbol für Reinheit und Tugend sein soll?
Jedenfalls kann sie es nicht ertragen, die beiden Fremden den ganzen Herbst und Winter in Ehrenberg zu sehen! Juliana stöhnt leise. Gerda bewegt sich auf ihrer Matratze zu Füßen des Bettes, gibt ein paar schmatzende Geräusche von sich und kehrt dann wieder zu ihrem gleichmäßigen Schnarchen zurück.
Die kalten Augen des Franzosen scheinen Juliana aus der Dunkelheit anzusehen. Ja, sie traut es ihm zu, dass er hier geduldig auf sein Opfer wartet, bis es zurückkehrt – in dem Glauben, von seiner Schuld gereinigt zu sein. Ahnungslos wird der Vater in die Falle tappen!
Die geisterhafte Gestalt des Franzosen grinst, hebt sein Schwert und stößt zu. Als er die Klinge wieder zurückzieht, ist sie voller Blut. Des Vaters Blut!
Juliana schlingt die Arme um ihren Leib und beginnt sich leicht vor und zurück zu wiegen. Das darf sie nicht zulassen! Aber wie kann sie diesen Anschlag verhindern? Sie muss den Vater warnen. In ihrem Geist jagt ein Bote auf einem schnellen Pferd über Land. Nein. Sie hat kein Geld, um einen Reiter zu
bezahlen. Das Bild verblasst. Kann sie mit der Mutter darüber reden? Sie muss die Männer fortschicken! Der Dekan kann es ihnen sagen, wenn die Edelfrau nicht will.
Und dann? Selbst wenn die Templer Ehrenberg verlassen, wie kann sie sicher sein, dass sie dem Vater nicht andernorts auflauern? Ratlos sitzt Juliana im Bett. Kein Gedanke, der ihr durch den Geist schwirrt, ist klar genug, dass sie ihn greifen kann. Doch dann schält sich eine Idee aus der wirbelnden Masse, die ihr den Atem nimmt. Es ist die Lösung. Die einzige Lösung, die sie von mehreren Problemen befreit und ihr endlich Antworten auf ihre drängenden Fragen bringt: Sie selbst muss ihm nachreisen!
Nein, wie soll das gehen? Die Mutter hier schändlich im Stich lassen? – Immerhin hat sie Pater Vitus an ihrer Seite. – Einen weinseliger Vetter, der seinen Durst wichtiger nimmt als den Trost seiner Mitmenschen!
Und doch nimmt der Gedanke immer klarer Gestalt an. Sie kann den Vater warnen, ihm alle Fragen stellen, die ihr auf der Zunge brennen, und mit ihm nach Santiago ziehen. Sie wäre die Templer los, die sie mit ihren Blicken verfolgen und ihr Furcht einjagen. Und sie kann dem Kochendorfer entgehen! Der Vater wird nicht zulassen, dass sie ihn heiraten muss! Die Mutter dagegen sähe die Verbindung gern – und wenn auch nur, damit sofort ein Mann in Ehrenberg einzieht, um nach dem Rechten zu sehen.
Was würde Dekan von Hauenstein zu diesem Plan sagen?
Die Worte will sie sich nicht ausmalen, deren er sich bedienen könnte. Sicher jedoch ist, dass er diese Idee alles andere als gutheißen würde. Mit ihm kann sie also nicht darüber sprechen, und es gibt auch niemand anderen, der ihr raten kann. Nicht einmal Gerda gegenüber darf sie ein Wort verlieren. Die Kinderfrau ist ihr zwar ergeben, fühlt sich allerdings auch für ihre Sicherheit verantwortlich. In diesem Fall würde sie vielleicht sogar ein Stillschweigeversprechen brechen und der Mutter alles gestehen.
Eine Reise nach Santiago. Allein. Nur auf sich gestellt.
Die Gedanken lösen ein Kribbeln in ihrem Leib aus, das aus freudiger Aufregung und Furcht zusammengesetzt ist. Nach und nach scheint die Abenteuerlust die Oberhand zu gewinnen. Fremde Länder sehen, Menschen kennen lernen, einen ganz neuen Lebenspfad beschreiten, an dessen Ende der Vater auf sie wartet.
Du bist ein einfältiges, dummes Ding!, schilt sie sich selbst. Deine Lust am Abenteuer wird dir schnell vergehen,
Weitere Kostenlose Bücher