Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
nicht da, die Frauen sind seines Schutzes beraubt. Juliana erschrickt über diesen Gedanken. Soll sie nun froh darüber sein, dass es nicht noch mehr Tote geben kann, oder soll sie es bedauern, dass sie selbst und ihre Mutter diesen schrecklichen Männern ausgeliefert sind? Und die Besuche des jungen Kochendorfers und seines Vaters bedeuten auch eher Verdruss denn Hilfe.
Juliana zögert, der Edelfrau von diesem ungeheuerlichen Verhalten der Gäste zu berichten. Warum? Will sie die Mutter schonen, oder fürchtet sie sich vor der Hilflosigkeit in ihrem Blick? Jetzt muss sie den Männern die Tür weisen und, wenn sie nicht freiwillig gehen, die Wächter zusammenrufen, um die Templer mit gezogenen Waffen bis zu den Grenzen Ehrenbergs
zu begleiten. Juliana ahnt, dass die Mutter nicht die Kraft finden wird, die notwendigen Anweisungen zu erteilen. Mit dem Vater ist auch ein Teil von ihr gegangen. Außerdem fühlt sie sich den beiden Templern gegenüber schuldig, obwohl der Ermordete nicht nur deren Ordensbruder, sondern auch ein Vetter aus ihrer Familie war.
Juliana trödelt heute besonders lange mit dem Umziehen, und Gerda kann es dem Fräulein nicht recht machen. Zweimal wechselt sie das Unterkleid, dann gefällt ihr die Farbe der angenestelten Ärmel nicht. Auch die Frisur muss die Kinderfrau ein paar Mal wieder lösen.
»Was ist nur heute mit Euch los, mein liebes Kind?«, fragt die Alte in dem gewohnt weichen Ton. Sie wird nie ungeduldig. Es reizt das Mädchen, sie weiter zu piesacken, nur um zu sehen, wann sie bei Gerda das Ende der Geduld erreicht. Sofort schämt sich Juliana der Gedanken. Die Kinderfrau kann nichts für ihre Unruhe und ihre schlechte Laune, und es ist auch ganz bestimmt nicht Gerdas Schuld, dass Juliana am liebsten gar nicht in die Halle hinuntergehen möchte. Sie umarmt die alte Frau.
»Du hast die Geduld einer Heiligen, Gerda. Ich danke dir. Du wirst sicher einst neben der Heiligen Jungfrau sitzen.«
Die Kinderfrau bekommt rosige Wangen und lächelt verlegen. »Ach, was Ihr immer so daherredet. Ich tue meine Pflicht – und ich liebe Euch, mein Kind. Wer wollte Euch zürnen, dass Ihr nach diesen furchtbaren Tagen durcheinander seid? Ach, ich wünschte, ich könnte den Kummer von Eurer und Eurer Mutter Seele nehmen. Doch nun geht, Eure Mutter wartet auf Euch, und Ihr wollt sie doch nicht mit diesen Männern allein lassen?«
Aus der Art, wie sie die Worte »diese Männer« betont, ist deutlich zu hören, was sie von den beiden Templern hält.
»Aber Pater Vitus ist doch bei ihr.«
»Ja, schon«, sagt Gerda und schneidet eine Grimasse. Der Pater, der den Wein so sehr liebt, genießt bei ihr kaum größeres Ansehen.
Juliana küsst sie auf die schlaffen Wangen. »Ich werde nicht lange bleiben, dann kannst du heute früh zu Bett gehen.«
»Oh, nehmt keine Rücksicht auf mich«, wehrt Gerda ab. »Ich warte auf Euch. – Weckt mich, falls ich versehentlich einnicke!«
Juliana greift nach ihrem Mantel und steigt langsam die Treppe in die Halle hinunter.
Juliana kann nicht einschlafen. Sie hat an diesem Abend kaum etwas gegessen, und dennoch verspürt sie eher Übelkeit als Hunger. Warum verlassen die beiden Templer nicht endlich die Burg und ziehen weiter nach Ungarn, wie sie es vorhatten, bevor sie nach Ehrenberg kamen? Hat Swicker nicht gesagt, sie müssten dort einige Komtureien besuchen? Ist das nun nicht mehr wichtig? Ein schrecklicher Gedanke durchfährt sie, so dass sie sich mit einem Ruck in ihrem Bett aufsetzt. Wollen sich die beiden gar hier einnisten, bis der Vater zurückkommt, um dann doch noch an ihm Rache zu nehmen? Nein, das dürfen sie nicht! Wenn jemand eine solche Sühnereise unternimmt, dann ist er von aller Schuld gereinigt, wenn er zurückkehrt. Es ist das Recht der Kirche, solche Bußfahrten aufzuerlegen.
Juliana kaut auf ihrer Lippe. Ist es wirklich so einfach? Kann jeder Kirchenmann einen Mörder vor dem Galgen retten, indem er ihn auf die Reise schickt? Als sie merkt, dass sie das Wort »Mörder« gedacht hat, zuckt sie zusammen.
Kann der Täter zwischen Strick und Reise wählen? Nein, davon hat sie noch nie gehört. Würde sonst je ein Verbrecher gerichtet werden? Wer würde schon den Tod nehmen, wenn er stattdessen in die Fremde gehen kann, um irgendwann gereinigt zurückzukehren? Nein, so einfach ist es nicht. Oder ist es ein Privileg der Edelfreien? Juliana überlegt. Es gibt nicht viele Ritter, die einem Henkersschwert zum Opfer fallen. Der
Weitere Kostenlose Bücher