Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
Flussufer unter sich liegen sehen. Der Río Sil, der hier mit ein paar Bächen aus den eben überwundenen Bergen zusammentraf, floss durch eine Landschaft, die von hier oben wie eine tiefe, grüne Schüssel aussah. Auf der anderen Seite ragte bereits der Cebreiropass auf, der den einzigen Übergang nach Westen zwischen zwei hohen Gebirgsketten ermöglichte. Er war der höchste und schwierigste Aufstieg auf dem ganzen Weg – seit den Pyrenäen. Juliana hoffte, dass sie diesen Pass nicht überqueren musste, und wenn, dann an der Seite ihres Vaters! Ihr Ziel lag zum Greifen nahe zu ihren Füßen! In Ponferrada wartete die Antwort auf all ihre Fragen.
Fast rannte sie den felsigen Pfad hinunter, bis sie am Grund des Kessels eine kleine Stadt durchquerte. Juliana achtete nicht auf die schöne Brücke oder die Mühlen am Flussufer oder die Häuser der Adeligen mit ihren prächtigen Wappen zu beiden Seiten der Calle Real. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, etwas zu essen oder zu trinken. Juliana eilte weiter, bis sie kaum zwei Stunden später erschöpft am Ufer des Río Boeza stand. Es schien keine Brücke zu geben, und das Wasser sah nicht danach aus, als könne man hindurchwaten. Das Mädchen trat zu zwei Frauen, die am Ufer warteten, gefüllte Körbe zu ihren Füßen. Sie trugen lange rote Röcke und hatten sich trotz der Wärme bestickte Tücher um die Schultern gelegt. Das zu Schnecken aufgedrehte Haar lugte unter breitkrempigen Strohhüten hervor. Sie unterhielten sich in schnellen, harten Worten, die Juliana wie das Poltern von Kies vorkamen, der einen steilen Hang hinunterrollt.
»Ich bitte um Verzeihung – les ruego me disculpen«, unterbrach sie die Frauen, nachdem sie vergeblich auf eine Pause gewartet hatte. »Wie komme ich über den Fluss?« Sie deutete ans andere Ufer, da die beiden sie offensichtlich nicht verstanden. Nun lachten sie und schlugen die Hände vor den Mund.
»La barca«, sagte die eine und zeigte auf ein Boot, das von zwei Männern in braunen Kutten gesteuert wurde. »¡Llegará en un rato!«
Juliana nickte und bedankte sich. Sie kannte die Worte zwar nicht, verstand aber, dass die Laienbrüder sie in der kleinen Fähre übersetzen würden.
Es dauerte wirklich nicht lange, bis die beiden Brüder die Frauen, Juliana und drei ältere Pilger, die gerade noch rechtzeitig am Ufer eintrafen, hinübergerudert hatten. Juliana dankte und machte sich weiter zur Burg auf, deren Turmzinnen schon über den Dächern der Stadt zu erkennen waren. Kurz darauf klopfte Juliana an das Tor der Templerburg.
»Bitte lasst mich ein«, flehte sie.
Der Servient am Tor schüttelt den Kopf. »El albergue de peregrinos y el hospital están al lado de la iglesia Santa María.« Sein schmutziger Finger zeigte auf den Kirchturm hinter ihr.
»Ich will nicht zur Herberge und auch nicht zum Spital«, wehrte das Mädchen ab. »Ich suche meinen Vater!« – »¡Busco a mi padre!«, versuchte sie es mit den Brocken Kastilisch, die sie inzwischen aufgeschnappt hatte.
Der Servient hob die Augenbrauen. »¿Tu padre? ¿Es un caballero de los templarios?«
»Caballero sí, templario no«, stellte sie richtig. »Ein Ritter aus Franken, aus dem Reich des Kaisers. Bitte, lasst mich ein, ich muss ihn sehen!«
Doch der dienende Bruder am Tor bestand darauf, dass im Moment kein fremder Ritter auf Burg Ponferrada weile.
»Kann ich dann wenigstens Euren Meister sprechen – ¿Su comandador?« Wie hieß er noch gleich? »¿Don Fernando Muñiz?«
Wieder schüttelte der Torwächter den Kopf. »No está aquí.«
Juliana brannten die Tränen unter den Lidern. Es konnte nicht sein – es durfte nicht sein, dass sie nach Wochen der Entbehrung und so vielen Meilen auf der Straße an einem dienenden Bruder scheiterte. Ihr Vater musste sich hinter dieser Mauer befinden. Er hatte Wolf gesagt, dass diese Burg sein Ziel war.
»O bitte, lasst mich ein und selbst nach ihm suchen«, flehte sie.
»Nach diesem Gewaltmarsch wirst du doch nicht etwa an einem Torwächter scheitern?«, sprach eine ihr wohl bekannte Stimme ihre eigenen Gedanken aus. Juliana drehte sich langsam um, so als wolle sie ihm Zeit geben, sich als Trugbild zu verflüchtigen. Doch er blieb. Lebendig und voller Kraft in seiner staubigen braunen Kutte stand Bruder Rupert vor ihr.
»Erstaunlich«, sagte er und nickte anerkennend mit dem Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich erst hier einhole.« Er kratzte sich den ungepflegten Bart. »Offensichtlich bin ich
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