Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
flüchtiges Lächeln. Wie viel lieber wäre es ihr, wenn der Vater so etwas sagen und ihr nur noch einmal diesen Blick schenken würde, den er nur noch für seinen Sohn übrig hat.
Und nun muss ich auch noch an diesem Festtag Kinderfrau für meinen kleinen Bruder spielen, denkt sie bitter. Einen
Augenblick lang wünscht sie sich, es würde Johannes nicht geben. – Er könnte sterben wie die anderen Kinder. Würde sich der Vater ihr dann wieder zuwenden? Scham überfällt sie. Wie kann sie nur so etwas Böses denken? Wenn sie zurück ist, will sie zur Buße zehn Rosenkränze auf ihren Knien beten.
Der Vater hebt die Hand, und der Zug setzt sich in Bewegung. Er führt die Familie und das Gefolge zur Flussaue hinunter und dann am Neckar entlang nach Norden, bis Burg Guttenberg mit ihren Türmen und der Schildmauer am Hang aufragt – über allem: der spitze Giebel des Bergfrieds.
Natürlich wäre es auch möglich gewesen, den kürzeren Weg entlang der Hangschulter zu nehmen, doch der Vater hat den Umweg sicher mit Bedacht gewählt. So können Hausherr und Gäste den feierlichen Zug der Nachbarn aus Ehrenberg von der Ringmauer aus besser betrachten.
Welch ein Bild! Die ganze Burg ist festlich geschmückt. Fahnen blähen sich in der morgendlichen Sommerbrise, farbig gekleidete Damen und Herren schreiten vor der Zugbrücke auf und ab oder sind auf dem Weg zum inneren Hof. Die Pferde müssen an diesem Tag draußen den Knechten übergeben werden, denn der Burghof von Guttenberg ist zu klein, sie alle zu fassen. Hier auf der Bergseite reihen sich zwei Ställe, eine kleine Schmiede, ein Brunnenhaus und ein paar mit Stroh gedeckte Häuser aneinander, jedoch so, dass ein breiter, unbewachsener Streifen zum Graben hin bleibt, der die Burg mit ihrer Schildmauer von der Hangschulter trennt. Schließlich soll einem anrückenden Feind keine Deckung geboten werden. Deshalb dürfen die Häuser und Hütten auf Anweisung des Burgherrn auch nur aus Holz gebaut werden, so dass die Burgmannen sie bei einem Angriff kurzerhand selbst abbrennen können.
Juliana lässt sich von einem Knecht vom Pferd helfen und übergibt ihm die Zügel ihrer Stute. Gemeinsam mit ihrem Gefolge überquert die Familie des Ritters von Ehrenberg die Zugbrücke und tritt durch das erste Tor in einen Mauerring, der die gesamte Burg umschließt.
Wäre man ein Adler und könnte über die Anlage hinwegfliegen, würde sich der äußere Mauerring als Halbkreis zeigen mit einem geraden Abschluss zum Neckartal zu und fünf runden Türmen an den beiden Ecken und auf der Bogenlinie verteilt. In ihm, in fast gleicher Form, sähe man die noch einmal von einer geschlossenen Mauer umgebene Burg mit dem Palas und dem Bergfried.
Die Gäste aus Ehrenberg folgen dem Pfad zwischen den zu beiden Seiten aufragenden grauen Steinen. Zum Glück ist es trocken, so dass die Rocksäume der Damen noch sauber sind, als sie durch das zweite Tor in den unregelmäßig geformten Hof treten. Rechts erhebt sich der Palas, in dem Küche, Saal und in den oberen Stockwerken die Gemächer des Ritters und die Kemenate untergebracht sind. Über eine gewundene Steintreppe gelangt man auf den Wehrgang der fünfzehn Schritt hohen Schildmauer, die bis zum Bergfried hinüberreicht, doch statt bewaffneter Burgmannen sieht man dort oben heute prächtig gekleidete Ritter mit ihren Damen und ein paar Kinder, die die Aussicht über das Land genießen. Nur wenige haben den mühsamen Aufstieg bis zur Plattform des Bergfrieds gewagt, von wo aus man hinüber nach Ehrenberg und bis zu den Turmspitzen der Kaiserpfalz sehen kann.
»Mein Fräulein, wie schön, dass Ihr dem Fest beiwohnt. Ihr seid eine Augenweide unter der Sonne.« Juliana fährt herum. Wilhelm von Kochendorf legt die Hand an seine Brust und verbeugt sich. Sein Blick wandert zu den Eltern des Mädchens, die er, entgegen der Regeln des Anstands, nun erst als Zweites begrüßt.
»Verehrter Ritter, geschätzte Dame, darf ich das Edelfräulein in den Saal geleiten? Dort gibt es Kuchen und süße Speisen und einen vortrefflichen Wein von den Hängen des Rheins.«
Der Vater mustert ihn finster. »Du weißt, dass du auf deinen Bruder achten sollst«, sagt er zu seiner Tochter. Er sieht zu Johannes hinüber, der brav Birgittas Hand hält und sich voller Staunen umsieht. »Deine Mutter hat kein Vertrauen zu ihr, sagt sie.«
Julianas Blick wechselt zwischen dem jungen Ritter, ihrem Vater und dem kleinen Bruder hin und her. Sie mag den Sohn des Gastgebers
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