Das Sigma-Protokoll
ob ihr Beruf für graue Mäuse reserviert sei.
Normalerweise spielte sie die Ahnungslose. Diesmal jedoch warf sie dem Mann einen finsteren Blick zu, worauf er schnell den Kopf abwandte.
Was immer die ICU von ihr wollte, der Zeitpunkt war denkbar
ungünstig; da hatte Dupree Recht. Vielleicht sind Sie ja selbst der Auftrag, hatte er gesagt. Anna hatte zwar versucht, das mit einem Schulterzucken abzutun, aber absurderweise machte ihr die Bemerkung dennoch zu schaffen. Was zum Teufel hatte er damit gemeint? Sicher saß Arliss Dupree jetzt bester Laune in seinem Büro und zerriss sich mit seinen Saufkumpanen das Maul über sie.
Als sich die Fahrstuhltür öffnete, blickte Anna in einen Raum mit Marmorwänden und luxuriöser Einrichtung. Sie hätte sich auch in der Vorstandsetage einer noblen Anwaltskanzlei befinden können. Rechter Hand hing das Wappen des Justizministeriums an der Wand. Eine kleine Tafel forderte sie auf, den Summer zu betätigen. Sie drückte auf den Knopf. Es war 11 Uhr 25, fünf Minuten vor der Zeit. Anna hielt viel auf ihre Pünktlichkeit.
Eine weibliche Stimme fragte nach ihrem Namen. Dann ertönte der Summer, und sie trat durch eine Tür. Die Frau am Empfang war attraktiv, dunkelhäutig und trug einen Pagenhaarschnitt. Vielleicht ein bisschen zu modisch für einen Behördenjob, dachte Anna. Die Frau taxierte sie kühl und bot ihr einen Stuhl an. Anna meinte, aus ihrer Stimme den Hauch eines jamaikanischen Akzents herauszuhören.
Das protzige Äußere wich im Innern der Büroräume penibelster Sterilität. Der blassgraue Teppichboden war so makellos sauber, wie sie es noch in keinem Regierungsgebäude gesehen hatte. Die Besucherecke wurde von einer Reihe greller Halogenlampen erleuchtet. Die Stühle und der Couchtisch bestanden aus hartem hellem Holz. In lackierten Stahlrahmen hingen Fotos vom Präsidenten und Justizminister. Alles sah nagelneu aus. Als sei es gerade erst ausgepackt und noch von keiner Menschenhand beschmutzt worden.
Sie sah, dass Faxgerät und Telefon der Empfangsdame Hologrammaufkleber der Regierung zierten. Das bedeutete, dass die Leitungen mit Verschlüsselungsprogrammen gesichert waren.
Regelmäßig summte das Telefon, und die Frau sprach mit leiser Stimme in ihr Kopfhörermikro. Bei den beiden ersten Anrufen sprach sie englisch, beim dritten französisch. Bei zwei weiteren in Englisch entlockte sie dem Anrufer geschickt ein paar
Informationen. Das nächste Telefonat führte sie in einer schnalzenden, zischenden Sprache, die Anna nicht sofort identifizieren konnte. Sie blickte wieder auf ihre Armbanduhr, rutschte nervös auf ihrem harten Stuhl herum und schaute dann die Empfangsdame an. »Das war baskisch, oder?«, fragte sie. Es war zwar mehr als ein Schuss ins Blaue, aber sicher war sie sich auch nicht.
Die Frau antwortete mit einem andeutungsweisen Nicken und einem affektierten Lächeln. »Es dauert nicht mehr lange, Miss Navarro«, sagte sie.
Jetzt erregte eine Art Holzkabinett, das sich hinter der Empfangsdame an der Wand befand, Annas Aufmerksamkeit. Als ihr das Notausgangzeichen über der Holzkonstruktion auffiel, begriff sie, dass sich dahinter eine Tür zum Treppenhaus versteckte. ICU-Agenten oder ihre Gäste konnten kommen und gehen, ohne von offiziellen Besuchern gesehen zu werden. Was sollte das alles?
Weitere fünf Minuten verstrichen.
»Weiß Mr. Bartlett, dass ich hier bin?«, fragte Anna.
Die Empfangsdame blickte sie kühl an. »Es ist noch jemand bei ihm. Er ist gleich so weit.«
Anna wünschte, dass sie sich etwas zum Lesen mitgenommen hätte. Sie hatte nicht mal die Washington Post dabei, und der jungfräuliche Empfangsbereich war natürlich nicht mit Lesestoff befleckt worden. Ungeduldig kramte sie einen Auszahlungsbeleg vom Geldautomaten und einen Stift aus ihrer Handtasche und notierte sich ein paar Dinge, die sie heute noch erledigen musste.
Die Empfangsdame hob den Zeigefinger ans Ohr, lauschte kurz und nickte. »Mr. Bartlett hat jetzt Zeit für Sie.« Sie kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und führte Anna durch einen Flur. Neben den Türen sah sie keine Namensschilder, nur Nummern. Neben der letzten Tür befand sich ein Schild mit der Aufschrift DIREKTOR. Das Büro dahinter war das ordentlichste, das Anna je gesehen hatte. Selbst die Abstände zwischen den Papierstößen, die auf einem Tisch aufgestapelt waren, schienen exakt gleich groß.
Ein kleiner weißhaariger Mann, der einen förmlichen marineblauen Anzug trug, kam hinter einem
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