Das Sigma-Protokoll
riesigen Walnussschreibtisch
hervor und streckte ihr seine schmale, zierliche Hand entgegen. Anna fielen die blassrosa Möndchen an den perfekt manikürten Fingernägeln auf. Sein Händedruck war überraschend kräftig. Bis auf ein paar grüne Aktenordner und ein schwarzglänzendes Telefon war der Schreibtisch leer; an der Wand dahinter hing eine mit Samt ausgeschlagene Vitrine, in der zwei alte Taschenuhren lagen. Sie waren das einzig Außergewöhnliche in dem Raum.
»Tut mir furchtbar Leid, dass ich Sie habe warten lassen«, sagte er. Sein Alter war schwer zu schätzen, Anna tippte auf Anfang sechzig. Wie eine Eule schaute er sie durch die großen, runden Gläser seiner fleischfarbenen Brille an. »Mit ist klar, dass Sie sehr beschäftigt sind. Deshalb weiß ich es umso mehr zu schätzen, dass sie vorbeikommen konnten.« Er sprach leise. So leise, dass Anna sich anstrengen musste, um ihn durch das Brummen der Klimaanlage verstehen zu können. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass sie es einrichten konnten.«
»Wenn ich offen sein darf... Ich wusste nicht, dass man die Wahl hat, wenn die ICU ruft«, entgegnete sie scharf.
Er lächelte, als hätte sie einen Scherz gemacht. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Anna setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Um ehrlich zu sein, Mr. Bartlett, bin ich ziemlich gespannt, warum Sie mich herbestellt haben.«
»Ich hoffe, das hat Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet«, sagte Bartlett und verschränkte seine schmalen Finger wie zum Gebet.
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Anna und fuhr mit kräftiger Stimme fort: »Ich beantworte gern jede Ihrer Fragen.«
Bartlett nickte erwartungsvoll. »Darauf hatte ich gehofft. Nur fürchte ich, dass das nicht so leicht sein wird. Vielmehr ist es sogar so, dass wir schon viel geschafft hätten, wenn es uns nur möglich wäre, die Fragen zu formulieren. Können Sie mir folgen?«
»Ich möchte zu meiner eigenen Frage zurückkommen«, sagte Anna, die ihre Verärgerung nur mühsam unterdrücken konnte. »Weshalb bin ich hier?«
»Entschuldigen Sie bitte. Mein elliptischer Redefluss muss Sie
ja verrückt machen. Natürlich haben Sie Recht, verzeihen Sie mir. Berufskrankheit. Immer nur Akten und nochmals Akten. Man muss gänzlich ohne den erfrischenden Wind der Praxis auskommen. Aber genau das Letztere wird Ihre Aufgabe sein. Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen, Miss Navarro. Wissen Sie, was wir hier tun?«
»Die ICU? Ungefähr, ja. Nachforschungen innerhalb von Regierungsbehörden - allerdings nur die geheimen.« Anna hielt es für besser, sich bei der Beantwortung der Frage zurückzuhalten; etwas mehr wusste sie schon. Internal Compliance Unit. Hinter dem schlichten Namen verbarg sich eine verschwiegene, mächtige und mit weit reichenden Kompetenzen ausgestattete Ermittlungsbehörde, die man mit geheimen Ermittlungen in anderen Regierungsbehörden betraute, wobei es um hochsensible Sachverhalte ging, die von den betroffenen Behörden nicht selbst untersucht werden konnten. Es hieß, dass ICU-Beamte intensiv mit dem CIA-Fiasko um Aldrich Ames, der Iran-Contra-Affäre aus der Regierungszeit von Ronald Reagan und zahlreichen Skandalen aus dem Verteidigungsministerium im Zusammenhang mit Waffenbeschaffungen befasst gewesen waren. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich, dass es die ICU gewesen sei, die als Erste die verdächtigen Aktivitäten des bei der Spionageabwehr tätigen FBI-Agenten Robert Philip Hanssen aufgedeckt hätte. Es hielten sich sogar immer noch Gerüchte, dass es sich bei »Deep Throat«, der undichten Stelle, von der Richard Nixons Niedergang ausging, um die ICU gehandelt hatte.
Bartlett schaute wie abwesend im Raum umher. »Die Untersuchungsmethoden sind im Wesentlichen überall auf der Welt die gleichen«, sagte er schließlich. »Was sich unterscheidet, ist der Aufgabenbereich. Der unsere betrifft die nationale Sicherheit.«
»Dafür fehlt mir die nötige Unbedenklichkeitsbescheinigung«, warf Anna schnell ein.
»Nun ja...« Bartlett erlaubte sich den Anflug eines Lächelns. »Die haben Sie inzwischen.«
Hatte man sie ohne ihr Wissen überprüft? »Abgesehen davon - das ist nicht mein Gebiet.«
»Das entspricht nicht ganz der Wahrheit«, sagte Bartlett. »Wie war das mit dem Angestellten vom Nationalen Sicherheitsrat,
dem Sie letztes Jahr eine Code-33-Behandlung zukommen ließen?«
»Woher zum Teufel wissen Sie das?«, platzte es aus Anna heraus. Sie umklammerte die Armlehnen ihres Stuhls.
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