Das Sigma-Protokoll
den Weg. Der Muskelmann ging hinter ihm, der Jüngere vor ihm, der Ältere an seiner Seite. Sie gingen durch das Einkaufszentrum, fuhren mit der Rolltreppe nach oben und gingen durch die Bahnhofstraße Richtung Hotel. Man hatte ihm zwar keine Handschellen angelegt, aber ihm war klar, dass das nur noch eine Formalität sein würde.
Vor dem Hotel wartete eine Polizistin, die sicher von seinen Begleitern hierher beordert worden war, und bewachte sein Gepäck. Das kurze braune Haar war fast wie bei einem Mann geschnitten, und ihr Gesichtsausdruck wirkte wie versteinert.
Hinter den Fensterscheiben der Lobby erkannte Ben den
schmierigen Hotelpagen. Als sich ihre Blicke trafen, wandte er sich so ruckartig ab, als sei ihm gerade aufgegangen, dass er die Koffer von Lee Harvey Oswald geschleppt hätte.
»Das ist Ihr Gepäck, oder?«, fragte der jüngere Polizist.
»Ja«, sagte Ben. »Was ist damit?«
Die Polizistin öffnete die braune Lederreisetasche. Ihre Kollegen schauten hinein und wandten sich dann an Ben. »Gehört die Tasche Ihnen?«, fragte der Jüngere.
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, antwortete Ben.
Der ältere Polizist zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, griff in Bens Tasche und holte etwas heraus. Es war Cavanaughs Walther PPK.
3. KAPITEL
Washington, D.C.
Eine junge, ernst dreinblickende Frau eilte zielstrebig durch den Hauptkorridor des vierten Stocks des Justizministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie hatte dunkelbraunes glänzendes Haar, karamellbraune Augen und eine spitze Nase. Auf den ersten Blick eignete ihr etwas Asiatisches oder Südamerikanisches an. Sie trug einen lohfarbenen Trenchcoat, hatte eine lederne Aktentasche unter dem Arm und sah aus wie eine Anwältin, Lobbyistin oder Karrierebeamtin.
Die Frau hieß Anna Navarro, war dreiunddreißig Jahre alt und arbeitete in einer kaum bekannten Abteilung des Justizministeriums, dem für Sonderermittlungen zuständigen Office of Special Investigations (OSI).
Als sie den stickigen Konferenzraum betrat, hatte die Besprechung schon begonnen. Arliss Dupree, der neben einer Staffelei mit einer weißen Schautafel stand, hörte mitten im Satz zu sprechen auf und drehte sich zu ihr um. Sie spürte die Blicke und dass sie leicht errötete - was zweifellos in Duprees Absicht gelegen hatte. Hastig nahm sie den erstbesten freien Stuhl. Ein Sonnenstrahl blendete sie.
»Da sind Sie ja. Wie schön, dass Sie noch hergefunden haben«, sagte Dupree. Sogar seine Sticheleien waren vorhersehbar. Anna war fest entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen, und nickte bloß. Er hatte ihr gesagt, dass die Besprechung um Viertel nach acht beginne. Offensichtlich war sie für acht angesetzt gewesen, und er würde sicher abstreiten, ihr jemals eine andere Zeit genannt zu haben. Die mickrige Bürokratenart, einem das Leben schwer zu machen. Außer ihnen beiden wusste keiner, warum sie zu spät gekommen war.
Bevor Dupree die Leitung des Office of Special Investigations übernommen hatte, waren Besprechungen nur selten angesetzt gewesen. Inzwischen gab es jede Woche eine-damit er seine Autorität demonstrieren konnte. Dupree war etwa Mitte vierzig, hatte die kleine, stämmige Figur eines Gewichthebers und trug einen seiner drei etwas knapp sitzenden hellgrauen Kaufhausanzüge, die er der Reihe nach durchwechselte. Obwohl Anna am anderen Ende des Raumes saß, roch sie sein billiges Rasierwasser. Sein rötliches Mondgesicht sah aus wie verklumpter Haferflockenbrei.
Früher war es ihr tatsächlich wichtig gewesen, was Männer wie Arliss Dupree über sie dachten, und sie hatte versucht, sie auf ihre Seite zu ziehen. Inzwischen war ihr das scheißegal. Sie hatte ihre Freunde, und Dupree gehörte nicht dazu. Von der anderen Tischseite warf ihr David Denneen, ein Mann mit kantigem Gesicht und rotblondem Haar, einen freundlichen Blick zu.
»Einigen von Ihnen ist vielleicht schon zu Ohren gekommen, dass die Internal Compliance um vorübergehende Abstellung unserer Kollegin gebeten hat.« Dupree schaute sie mit harten Augen an. »Angesichts der hier noch unerledigten Arbeit, Agent Navarro, würde ich es als wenig verantwortungsbewusst erachten, wenn Sie der Abordnung an eine andere Abteilung zustimmten. Oder haben Sie sich etwa selbst darum bemüht? Sie können uns das ruhig mitteilen.«
»Ich höre zum ersten Mal davon«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
»Ach? Nun ja, vielleicht war ich da mit meinen Schlüssen etwas voreilig«, sagte er mit etwas
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