Das Sigma-Protokoll
England, Italien, Spanien, Schweden und Griechenland. Offenbar sind alle eines natürlichen Todes gestorben.«
Anna ging die Liste durch. Von zwei der elf Personen hatte sie schon gehört. Einer gehörte zur Lancaster-Familie, die einst die meisten Stahlwerke im Land besessen hatte und jetzt vor allem für ihre Stiftungsstipendien und andere philanthropische Aktivitäten bekannt war. Anna hatte angenommen, dass Philip Lancaster schon vor langer Zeit gestorben war. Der andere hieß Nico Xenakis, vermutlich ein Mitglied der bekannten griechischen Reederfamilie. Eigentlich kannte sie den Namen nur wegen eines anderen Familiensprosses, der in den Sechzigern als Playboy durch die Boulevardpresse gegeistert war, weil er reihenweise Hollywoodsternchen abgeschleppt hatte. Die anderen Namen waren ihr unbekannt. Sie überflog die Geburtsdaten. Alle waren sehr alt gewesen - zwischen Ende siebzig und Ende achtzig.
»Vielleicht ist das ja noch nicht durchgedrungen bis zu den Überfliegern vom ICU«, sagte sie. »Wenn man mal die Siebzig übersprungen hat, dann... na ja, lebend kommt keiner davon.«
»Ich fürchte, dass es uns nicht möglich sein wird, die Leichen zu exhumieren«, fuhr Bartlett ungerührt fort. »Vielleicht haben Sie ja Recht. Alte Männer sterben nun mal. Auf jeden Fall können wir nicht das Gegenteil beweisen. Pro forma haben wir ein paar Namen auf eine von diesen internationalen Überwachungslisten setzen lassen, von denen sonst anscheinend keiner Notiz nimmt. Und vor ein paar Tagen haben wir tatsächlich einen Glückstreffer gelandet. Der letzte Tote war ein Rentner aus Nova Scotia, Kanada. Unsere kanadischen Freunde sind etwas pingelig, wenn es um korrekte Dienstwege geht, deshalb haben wir rechtzeitig davon Wind bekommen. Diesmal haben wir eine Leiche, die wir uns anschauen können. Das heißt, Sie werden sie sich anschauen.«
»Etwas haben Sie noch nicht erwähnt. Was haben die Männer miteinander zu tun?«
»Auf jede Frage gibt es eine oberflächliche Antwort und eine, die etwas tiefer geht. Ich kann nur mit der oberflächlichen dienen, weil es die einzige ist, die ich habe. Vor ein paar Jahren wurde bei der CIA eine interne Überprüfung uralter Aktenbestände durchgeführt. Nehmen wir an, dass sie einem Tipp nachgegangen sind. Keine Akten, in denen es um Operationen, Agenten oder Kontaktleute ging. Es handelte sich um Unbedenklichkeitsbescheinigungen. Jede trug den Aufdruck ›Sigma‹ - vermutlich das Codewort für eine Operation. Nur dass nirgendwo bei der CIA ein Hinweis auf eine solche Operation zu finden war. Wir wissen absolut nichts darüber.«
»Unbedenklichkeitsbescheinigungen?«, wiederholte Anna.
»Das heißt: Vor langer Zeit ist jeder dieser Männer überprüft und für tauglich befunden worden für eine Operation, von der wir nichts wissen.«
»Und der Tipp kam von einem Beamten, der bei der CIA im Archiv arbeitet?«
Bartlett antwortete indirekt. »Unsere besten Experten haben alle Bescheinigungen für echt erklärt. Die Akten waren alt, sehr alt. Sie stammen aus der Mitte der Vierzigerjahre, aus der Zeit vor der Gründung der CIA.«
»Sie meinen, sie wurden von der OSS angelegt?«
»Exakt«, sagte Bartlett. »Vom Office of Strategic Services, dem Vorläufer der CIA. Einen Großteil der Akten hat man gleich nach Kriegsende gesichtet, zu Beginn des Kalten Krieges. Die letzten datieren aus der Mitte der Fünfziger. Aber ich schweife ab. Zurück zu den Todesfällen. Da gibt es nämlich ein merkwürdiges Muster. Sicher wäre alles im Sande verlaufen, ein Fragezeichen in einem Meer von Fragezeichen, wenn uns nicht dieses Muster aufgefallen wäre, das wir dann mit den Sigma-Akten gegengecheckt und verglichen haben. Ich glaube nicht an Zufälle. Sie, Miss Navarro? Elf der in den Akten erwähnten Männer sind in sehr kurzen Abständen gestorben. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei um einen Zufall handelt, ist verschwindend gering.«
Anna nickte ungeduldig. So weit sie das beurteilen konnte, sah
das Gespenst Gespenster. »Wie lange dauert das Ganze? Ich habe nämlich auch noch einen richtigen Job.«
»Das ist jetzt Ihr richtiger Job. Wurde alles in die Wege geleitet. Haben Sie Ihre Aufgabe verstanden?« Sein Blick war jetzt sanfter. »Die Sache scheint Sie ja nicht sonderlich aufzuregen, Miss Navarro?«
Anna hob die Schultern. »Ich möchte noch mal auf die Tatsache zurückkommen, dass bei diesen Burschen der Vorhang schon halb unten war. Wenn man alt wird, muss man
Weitere Kostenlose Bücher