Das Sigma-Protokoll
Hoffmann. Anscheinend dringend. Ach, Mr. Simon, ich sehe gerade, dass mein Chef mir ein Zeichen macht. Er würde Sie gerne sprechen.«
Bens erster Gedanke war, sofort aufzulegen. Doch dann dachte er sich, dass es vielleicht ganz nützlich sein könnte, zu erfahren, wie viel der Hotelmanager wusste.
»Mr. Simon?« Der laute und gebieterische Bass des Managers. »Eins unserer Zimmermädchen sagt mir, dass sie von Ihnen bedroht wurde. Außerdem hat es gestern Abend im Hotel eine Schießerei gegeben. Sie sollten sich umgehend für einige Fragen bei der hiesigen Polizei melden.«
Ben unterbrach die Verbindung.
Kein Wunder, dass der Manager mit ihm sprechen wollte. Im Hotel war Schaden entstanden; außerdem war er wegen der Schießerei verpflichtet gewesen, die Polizei anzurufen. Aber etwas an der Stimme des Angestellten hatte Ben irritiert. Diese plötzlich so großkotzige Selbstsicherheit eines Mannes, der die Macht der Behörden hinter sich weiß.
Was hatte wohl der Privatdetektiv Hoffmann so Dringendes mitzuteilen?
Die Tür zu Sonnenfelds Büro öffnete sich, und ein kleiner, gebückter alter Mann bat ihn mit einer matten Handbewegung einzutreten. Er begrüßte Ben mit einem zitterigen Händedruck und setzte sich dann hinter einen Schreibtisch, der mit Bergen von Papier überhäuft war. Jakob Sonnenfeld hatte einen borstigen grauen Schnauzer, vorstehende Backenknochen, große Ohren und rot geränderte, zusammengekniffene, wässerige Augen. Er trug eine altmodisch breite Krawatte mit einem klobigen Knoten,
eine ebenso altmodische braune Wollweste und ein kariertes Sakko.
»Viele Menschen wollen einen Blick in mein Archiv werfen«, sagte Sonnenfeld plötzlich. »Manche aus hehren Gründen, andere aus weniger hehren. Was sind die Ihren?«
Ben räusperte sich, um zu antworten, doch Sonnenfeld sprach schon weiter. »Ihr Vater ist also ein Überlebender des Holocaust. Und? Es gibt Tausende, die den Holocaust überlebten haben. Warum interessieren Sie sich für meine Arbeit?«
Kann ich offen mit dem Mann sprechen?, fragte sich Ben. »Sie machen nun schon seit Jahrzehnten Jagd auf Nazis«, begann er zögerlich. »Hassen Sie diese Leute eigentlich?«
Sonnenfeld schüttelte den Kopf. »Nein. In mir ist kein Hass. Wenn Hass meine Triebfeder wäre, hätte ich diese Arbeit keine fünfzig Jahre machen können. Sie hätte mich schon längst von innen zerfressen.«
Ben runzelte die Stirn. Er ärgerte sich über Sonnenfelds großherzige Pietät.
»Zufällig bin ich der Meinung, dass diese Kriegsverbrecher sehr wohl hassenswert sind.«
»Ach, Sie glauben, das sind Kriegsverbrecher? Ein Kriegsverbrecher verübt seine Verbrechen in Verfolgung seiner Kriegsziele. Er mordet und foltert, um zum Sieg beizutragen. Sagen Sie mir eins: War es für den Sieg der Nazis nötig, Millionen von Unschuldigen zu massakrieren und zu vergasen? Natürlich nicht. Sie taten es aus rein ideologischen Gründen. Um, wie sie glaubten, den Planeten zu reinigen. Es war völlig überflüssig. Sie erledigten das nebenher. Es kostete sie wertvolle Ressourcen, die sie dringend für ihren Krieg benötigt hätten. Meiner Meinung nach hat der Genozid ihre Kriegsanstrengungen behindert. Nein, die Verantwortlichen für den Holocaust waren keine Kriegsverbrecher.«
Ben nickte zustimmend. »Wie nennen Sie sie dann?«
Sonnenfeld lächelte. Mehrere Goldzähne blitzten. »Bestien.«
Ben atmete tief durch. Er musste Sonnenfeld vertrauen. Es war die einzige Möglichkeit, ihn zur Mitarbeit zu bewegen. Er war zu intelligent. »Dann lassen Sie mich gleich zur Sache kommen, Mr. Sonnenfeld. Mein Zwillingsbruder ist von Leuten ermordet
worden, die meiner Meinung nach mit einigen dieser Bestien in Verbindung stehen.«
Sonnenfeld beugte sich vor. »Entschuldigen Sie, aber Sie sehen mich verwirrt«, sagte er gespannt. »Sie und Ihr Zwillingsbruder sind ja wohl eindeutig zu jung, um den Krieg noch miterlebt zu haben.«
»Mein Bruder ist erst vor gut einer Woche getötet worden«, sagte Ben.
Sonnenfeld runzelte die Stirn. Er schaute Ben misstrauisch an. »Werden Sie deutlicher. Ich verstehe nicht.«
Ben erzählte Sonnenfeld, was Peter herausgefunden hatte. »Diese Urkunde hat meinen Bruder aus einem besonderen Grund brennend interessiert. Einer der maßgeblichen Männer war unser Vater. Max Hartman.«
Verblüfftes Schweigen. »Ich kenne den Namen. Ihr Vater hat viel Geld für wohltätige Zwecke gestiftet.«
»1945 trug eine seiner Wohltätigkeitsaktionen den Namen
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