Das Sigma-Protokoll
einem biometrischen Erkennungssystem ausgestattet, einem Fingerabdruckscanner. Ohne meinen Fingerabdruck kommt niemand an meine Dateien. Es wäre also keine gute Idee, mich umzubringen.«
»Na ja, man muss ja nicht gleich bis zum Äußersten gehen«, meinte der Besucher aufgeräumt.
»Kennen Sie die Wahrheit über meinen Vater?«, fragte Ben. »Über einen derart prominenten Holocaust-Überlebenden und - verzeihen Sie den Ausdruck - potenziellen Sponsor Ihrer Arbeit müssten sie doch eine Akte haben. Mehr als jeder andere hätten Sie die Möglichkeit gehabt, seine Lügen zu durchschauen. Sie verfügen über die Namen sämtlicher KZ-Häftlinge. Niemand kann auf ein so umfangreiches Archiv zurückgreifen wie Sie. Deshalb frage ich Sie: Kannten Sie die Wahrheit über meinen Vater?«
»Kennen Sie sie?«, erwiderte Sonnenfeld in scharfem Ton.
»Ich habe sie schwarz auf weiß gesehen.«
»Sie haben etwas schwarz auf weiß gesehen, richtig, aber Sie haben nicht die Wahrheit gesehen. Der typische Fehler des Amateurs. Verzeihen Sie, Mr. Hartman, aber mit Schwarzweiß kommen wir hier nicht weiter. Derartige Fälle haben in der Regel viele Facetten. Ich weiß zwar nicht viel über Ihren Vater, aber die Geschichte ist so normal wie traurig. Es ist eine Geschichte, die uns in moralische und ethische Grenzbereiche führt, wo Licht und Schatten beständig wechseln. Fangen wir mit einer simplen Tatsache an: Hatte ein Jude Geld, ließen die Nazis mit sich handeln. Das ist eins der hässlichen Geheimnisse der Kriegszeit, über die kaum gesprochen wird. Es kam ziemlich oft vor, dass reiche Juden sich freies Geleit erkaufen konnten. Die Nazis nahmen alles: Gold, Schmuck, Wertpapiere, egal. Es war Erpressung, ganz einfach. Es gab sogar eine Preisliste. Ein Leben war dreihunderttausend Schweizer Franken wert. Einer der Rothschilds tauschte seine Stahlfabriken gegen die Freiheit ein. Er überschrieb sie an die Hermann-Göring-Werke. Aber man liest nichts über diese Dinge. Keiner redet darüber. Zum Beispiel die Familie Weiss: steinreiche Juden aus Ungarn, Eigentümer von Unternehmen in dreiundzwanzig Ländern der Erde. Sie haben ihren gesamten Besitz der SS übereignet. Als Gegenleistung wurden sie in die Schweiz verfrachtet.«
Ben war es heiß geworden. »Aber bei einem Obersturmführer...«
»Einem jüdischen Obersturmführer obendrein. Sie fragen, ob das möglich ist?« Er räusperte sich. »Ein SS-Offizier namens Kurt Becher wickelte im Auftrag von Eichmann und Himmler solche Deals ab. Becher verkaufte zum Beispiel einem Ungarn namens Dr. Rudolf Kastner eintausendsiebenhundert Juden für eintausend Dollar pro Nase. Eine ganze Zugladung. Die Juden in Budapest haben sich um die Plätze geprügelt. Sie wissen sicher, dass Ihre Familie vor dem Krieg ziemlich wohlhabend war. Der Ablauf bei einem Fall wie dem von Max Hartmann war also ziemlich nahe liegend. Eines Tages tauchte Obergruppenführer Becher auf, und die beiden machten ein Geschäft. Das war’s. Wozu das ganze Geld, wenn man sowieso starb? Und so hat er sich und seine Geschwister freigekauft. Das war keine Frage der Moral. Man tat, was man tun musste, um am Leben zu bleiben.«
Ben hatte sich seinen Vater nie als verängstigten und verzweifelten jungen Mann vorgestellt. Bens Tante Sarah hatte bei seiner Geburt schon nicht mehr gelebt, aber er erinnerte sich an Tante Leah, die gestorben war, als er die Highschool besucht hatte. Eine kleine, stille und sanftmütige Dame, die als Bibliothekarin in Philadelphia gelebt hatte. Die ihren Bruder nicht nur von ganzem Herzen geliebt, sondern auch seine Charakterstärke bewundert und sich ihm in allen Dingen gefügt hatte. Wenn es Geheimnisse gab, dann waren sie bei ihr sicher gewesen.
Aber welche Geheimnisse hütete sein Vater?
»Wenn das alles stimmt, warum hat er uns nie davon erzählt?«, fragte Ben.
»Glauben Sie etwa, dass man mit solchen Geschichten hausieren geht?« Ein leicht spöttischer Unterton war in Sonnenfelds Stimme zu hören. »Glauben Sie, dass Sie das begriffen hätten? Millionen sind in den Verbrennungsöfen umgekommen, während Max Hartmann das Glück hatte, über genügend Geld zu verfügen. Diese Leute haben das nie jemandem erzählt. Sie hatten genug damit zu schaffen, es aus ihrem eigenen Gedächtnis zu verbannen, das können Sie mir glauben. Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit diesem Thema. Man zerrt solche Dinge besser nicht an die Öffentlichkeit.«
Ben wusste nicht, was er dazu sagen
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