Das Sigma-Protokoll
sollte.
»Himmler hat sogar Churchill und Roosevelt ein Angebot gemacht. Im Mai’44. Sein Vorschlag an die Alliierten lautete: ein Lastwagen für hundert Juden. Die Nazis wollten ihnen alle verkaufen. Sie würden die Gaskammern abreißen und das Morden sofort einstellen - für ein paar Lastwagen, die sie für den Russlandfeldzug benötigten. Juden gab’s im Angebot. Nur dass sie keiner wollte. Roosevelt und Churchill lehnten ab. Sie weigerten sich, dem Teufel ihre Seele zu verkaufen. Leicht gesagt, was? Eine Million europäischer Juden hätten sie retten können, aber sie haben abgelehnt. Es gab führende jüdische Persönlichkeiten, die diesen Deal unbedingt machen wollten. Sie sehen, Mr. Hartman, ziemlich vertrackte Sache mit der Moral.« Sonnenfelds Stimme klang jetzt verbittert. »Heute lässt sich leicht über Moral und weiße Westen schwadronieren. Um sein Leben zu retten, ist Ihr Vater auf einen anstößigen Handel eingegangen, und ein Resultat davon ist, dass es Sie gibt.«
Ben sah zwei Bilder vor sich: seinen alten und gebrechlichen Vater in Bedford und den drahtigen und athletischen Mann auf dem Foto. Ben konnte sich nicht mal ansatzweise eine Vorstellung davon machen, was für ein langer Weg zwischen diesen beiden Bildern lag. Was hatte er außer dieser Geschichte sonst noch vor ihm verborgen? »Aber das alles erklärt nicht, warum sein Name auf diesem Dokument steht«, sagte Ben. »Und dass er ein SS-Mann war.«
»Sicher nur dem Namen nach.«
»Und das heißt?«
»Was wissen Sie über Ihren Vater?«
Gute Frage, dachte Ben. »Anscheinend jede Minute weniger«, erwiderte er. Weitere Bilder tauchten vor Bens innerem Auge auf: wie Max Hartman - kraftvoll und Furcht einflößend wie ein Feldherr - einer Vorstandssitzung präsidiert. Oder den sechsjährigen Ben hoch in die Luft wirft. Oder abweisend und entrückt am Frühstückstisch sitzt und die Financial Times liest.
Immer habe ich versucht, mir seine Liebe und seinen Respekt zu verdienen. Und wie ich gestrahlt habe in den seltenen Augenblicken, wenn er sie gewährte. Max Hartman, mein Vater, war mir immer ein Rätsel geblieben.
»Eins weiß ich sicher«, sagte Sonnenfeld ausdruckslos. »Ihr Vater hatte in deutschen Finanzkreisen schon als junger Mann den Ruf eines Genies. Aber er war Jude. Als mit Beginn des Krieges immer mehr Juden verschwanden, bot man ihm Arbeit bei der Reichsbank an. Er sollte Finanzstrukturen entwickeln, die es den Nazis erlaubten, die Geldblockade der Alliierten zu umgehen. Als eine Art Tarnung hat man ihn pro forma mit einem SS-Dienstgrad ausgestattet.«
»Dann hat er also in gewisser Weise dabei mitgewirkt, das Naziregime zu finanzieren«, sagte Ben. Das war zwar keine große Überraschung mehr, die endgültige Bestätigung war aber dennoch ein Schock.
»Das kann man leider nicht leugnen. Ich bin sicher, dass man ihn unter Druck gesetzt hat. Was hätte er schon tun sollen? Man hat ihn dem Sigma-Projekt wahrscheinlich ganz einfach zugeteilt.« Er machte wieder eine Pause und schaute Ben eindringlich an. »Für Grauzonen haben Sie wohl nicht viel übrig, was?«
»Komischer Spruch für einen Nazijäger.«
»Wieder so eine Journalistenschublade«, sagte Sonnenfeld. »Ich kämpfe für die Gerechtigkeit. Und da muss man unterscheiden können - zwischen verzeihlichem und unverzeihlichem, zwischen gewöhnlichem und außergewöhnlichem Fehlverhalten. Und falls Sie es noch nicht wissen sollten: Not produziert keinen Edelmut.«
Ben schwindelte. Der Boden unter seinem Stuhl schien zu schwanken. Er atmete tief ein und aus und versuchte klar im Kopf zu werden.
Plötzlich sah er wieder seinen Vater vor sich. In dessen Arbeitszimmer. Wie so oft nach dem Abendessen saß er im Dunkeln in seinem dick gepolsterten Lieblingssessel und hörte Mozarts Don Giovanni. Wie einsam muss er gewesen sein; immer mit der Furcht lebend, dass die hässliche Vergangenheit eines Tages aufgedeckt würde. Ben war überrascht über die Zärtlichkeit, die er auf einmal für seinen Vater empfand. Der alte Mann hat mich so geliebt, wie er eben fähig war, einen Menschen zu lieben. Wie kann ich ihn dafür verachten? Ben kam der Gedanke, dass der eigentliche Grund, warum Jürgen Lenz seinen Vater hasste, nicht seine Abscheu vor der Naziideologie war, sondern dass er die Familie im Stich gelassen hatte.
»Erzählen Sie mir, was Sie über Strasser wissen«, sagte Ben. Nur ein Themawechsel konnte ihn jetzt auf andere Gedanken bringen.
Sonnenfeld schloss die
Weitere Kostenlose Bücher