Das Sigma-Protokoll
die schmalen, vorstehenden Simse waren früher mal Balkone gewesen, bevor man aus Gründen der öffentlichen Sicherheit die verrosteten Geländer hatte abmontieren müssen. Trotzdem war die vor einem Jahrhundert auf die Konstruktion des Gebäudes verwandte Sorgfalt auch nach Jahrzehnten der Vernachlässigung noch erkennbar.
Annas Anweisungen waren eindeutig. Sie würden im Schutz einer Menschentraube die Straße überqueren. Die Leute strebten dem Nachbarhaus mit dem schäbigen Schnaps- und Zigarettenladen und dem offenen Shawarma-Lokal mit dem rotierenden, von Fliegen belagerten Fleischspieß zu. Niemand, der aus einem Fenster des Wohnhauses Nummer 1554 nach unten schaute, würde bemerken, wie sie in das Gebäude schlüpften.
»Klingeln wir?«, fragte Ben, als sie vor dem Eingang standen.
»Wir wollen ihn doch überraschen, oder?« Anna schaute kurz nach allen Seiten und fummelte dann mit einem schmalen Metallstreifen an dem Schloss herum.
Nichts passierte.
Ben wurde langsam nervös. Als sie sich noch im Strom der Fußgänger bewegt hatten, war alles in Ordnung gewesen, aber jetzt fielen sie auf. Als Einzige standen sie bewegungslos da.
»Verdammt, Anna«, flüsterte er nervös.
Sie stand leicht vorgebeugt vor der Tür. Er sah den Schweiß auf ihrer Stirn. »Holen Sie Ihren Geldbeutel raus und zählen Sie Ihr Geld«, sagte Anna. »Oder checken Sie Ihr Handy auf Nachrichten. Tun Sie irgendwas. Aber langsam, ganz langsam.«
Während sie sprach, hörte Ben das kratzende Geräusch von Metall auf Metall.
Dann ein Klicken... ein Metallbolzen schnellte zurück. Anna drückte die schwere Klinke herunter und öffnete die Tür. »Diese Art Schlösser brauchen ein feines Händchen. Besonders sicher sind sie allerdings nicht.«
»Ist ja auch nicht wichtig. Die Idee lautet doch: unsichtbar in der Masse.«
»Und noch nie hat ihn jemand zu Gesicht bekommen?«
»Richtig.«
»Haben Sie eigentlich mal dran gedacht, dass der Kerl möglicherweise ganz schön durchgeknallt ist? Wenn der hier seit Jahren total isoliert lebt, ist das durchaus drin.«
Sie gingen zum Fahrstuhl, wo Anna neben der beschmierten Fahrstuhltür auf einen Knopf drückte. Als sie die altersschwach krächzende Kette hörten, entschieden sie sich für die Treppe und stiegen leise bis in den sechsten und obersten Stock.
Vor ihnen lag ein Flur, der mit schmutzigen weißen Fliesen ausgelegt war.
Als sie sahen, dass die Tür zur einzigen Wohnung auf dem Stockwerk offen stand, begann ihr Puls zu rasen.
»Monsieur Chabot!«, rief Anna.
Keine Antwort.
»Monsieur Chardin!«, rief sie dann und warf Ben einen kurzen Blick zu.
Sie standen jetzt vor der offenen Tür.
Im Flur der Wohnung war schemenhaft eine Bewegung zu sehen. »Georges Chardin!«, rief Anna noch einmal. »Wir hätten Ihnen etwas mitzuteilen, das für Sie von großem Interesse sein dürfte.«
Ein paar Sekunden Stille, dann ein ohrenbetäubender Knall.
Was zum Teufel war das gewesen?
Ein Blick auf die Treppenhauswand gegenüber der Wohnungstür genügte: Die Wand sah aus wie eine Kraterlandschaft.
Jemand feuerte mit einer Schrotflinte auf sie.
»Könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?«, sagte Therese Broussard, deren Gesicht vor Empörung rot angelaufen war. »Seit dem
Tod meines Mannes hat sich nichts an meiner Lage geändert. Haben Sie mich verstanden? Absolut nichts!«
Der Mann, der einen großen schwarzen Koffer trug, betrat die Wohnung und marschierte an Therese Broussard vorbei schnurstracks zum Fenster. Ein merkwürdiger Mensch.
»Nette Aussicht«, sagte der Mann.
»Ach was, da scheint die Sonne den ganzen Tag nicht rein«, erwiderte sie ärgerlich. »Die Wohnung könnte man als Dunkelkammer benutzen.«
»Alles hat seine Vorteile. Kommt drauf an, was man vorhat.«
Irgendwas stimmte nicht mit dem Kerl. Er hörte sich jetzt anders an. Die steife Bürokratensprache war verschwunden. Die Stimme klang jetzt weicher, salopper.
Therese trat ein paar Schritte zurück. Ihr Puls ging plötzlich schneller. Ihr fielen die Zeitungsberichte über den Vergewaltiger ein, der in der Gegend um die Place de la Reunion sein Unwesen trieb. Manche der Frauen waren noch älter als sie gewesen. Auf jeden Fall war dieser Mann ein Hochstapler. Da war sie ganz sicher: Ihr Instinkt sagte ihr das. Wie der Mann sich bewegte, mit der Behändigkeit und Kraft eines Reptils. O Gott! Sie war jetzt fast überzeugt, dass der Vergewaltiger vor ihr stand. Sie hatte gelesen, dass sein Auftreten so Vertrauen
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