Das Sigma-Protokoll
des Hauses ist.«
»Und was stellen Sie sich jetzt vor? Dass wir bei diesem möglicherweise verrückten und gefährlichen Alten mal eben so anklingeln und höflich um ein Tässchen Koffeinfreien und die Beantwortung unserer Fragen bitten?«
»Darauf bin ich nun wirklich nicht scharf«, sagte Ben grinsend. »Ich meine auf Koffeinfreien.«
»Das Vertrauen in Ihren Charme scheint ja keine Grenzen zu kennen«, sagte Anna und beäugte misstrauisch ihr vegetarisches Couscous. »Spricht er eigentlich Englisch?«
»Fließend. Wie fast alle französischen Geschäftsleute. Deshalb kann man sie auch so gut von französischen Intellektuellen unterscheiden.« Er wischte sich mit einer dünnen Papierserviette den Mund ab. »Ich hab uns hierher gebracht, meine Arbeit ist erledigt. Jetzt sind Sie dran. Sie sind der Profi. Was empfehlen denn Ihre schlauen Lehrbücher für solche Fälle? Gibt’s da einen speziellen Modus operandi?«
»Lassen Sie mich kurz nachdenken. Sie meinen den MO für einen Höflichkeitsbesuch bei einem Paranoiden, den die Welt fälschlichereise für tot hält und der das Geheimnis einer weltumspannenden Böse-Buben-Bande hütet? Tja, bedaure, damit kann ich nicht dienen.«
Die Lammtagine lag Ben im Magen wie ein Backstein.
Anna stand auf und nahm ihn bei der Hand. »Immer dicht bei mir bleiben.«
Therese Broussard stand am Fenster und schaute trübsinnig auf die Fußgänger, die sieben Stockwerke unter ihr die Rue de Vignoles entlanggingen. Wenn ihr Kamin nicht schon seit Jahren zugemauert wäre und ihr kleiner Fernseher nicht schon vor vier
Wochen den Geist aufgegeben hätte, dann hätte sie mit dem gleichen Blick ins Feuer oder auf den Bildschirm geschaut. Sie schaute, um die Nerven zu beruhigen und die Langeweile zu vertreiben; sie schaute, weil sie nichts Besseres zu tun hatte. Außerdem hatte sie gerade zehn Minuten lang ihren großen sackartigen Unterrock gebügelt und brauchte eine Pause.
Therese war eine kräftig gebaute vierundsiebzigjährige Frau mit glattem schwarz gefärbtem Haar und einem schwabbeligen Schweinsgesicht. Obwohl sie schon seit zehn Jahren kein Stück Stoff mehr zugeschnitten hatte und in ihrem Fach ohnehin keine Koryphäe gewesen war, erzählte sie den Leuten immer noch, dass sie Damenschneiderin sei. Sie war in Belleville aufgewachsen, hatte mit vierzehn die Schule verlassen und war nie so attraktiv gewesen, dass sie auf einen Mann hätte hoffen dürfen, der ihr finanzielle Sicherheit geboten hätte. Sie war gezwungen gewesen, einen Beruf zu erlernen. Da eine Freundin ihrer Großmutter Schneiderin war, wurde sie deren Gehilfin. Die Augen der alten Frau waren nicht mehr die besten, und wegen ihrer Arthritis waren auch die Hände nicht mehr die geschicktesten. Obwohl Therese ihr eine Hilfe war, trennte sich die alte Frau, die von dem Mädchen Tati Jeanne genannt wurde, nur widerwillig von den wenigen Francs, die sie ihr jede Woche zahlte. Tati Jeannes ohnehin spärliche Kundschaft und Einkünfte wurden immer spärlicher, sodass es eine große Belastung für sie war, das Wenige auch noch teilen zu müssen.
Eines Tages im Jahre 1945 schlug in der Porte de la Chapelle nur wenige Meter neben Therese eine Bombe ein. Sie blieb zwar unverletzt, doch die Explosion verfolgte sie fortan in ihren Träumen und riss sie immer wieder aus dem Schlaf. Mit den Jahren wurde ihr Nervenkostüm immer dünner. Beim kleinsten Geräusch fuhr sie zusammen. Außerdem entwickelte sie eine unstillbare Fresssucht. Als Tati Jeanne starb, übernahm Therese deren schwindende Kundschaft, doch es reichte kaum mehr zum Leben.
Wie sie befürchtet hatte, war sie allein geblieben, hatte allerdings auch gelernt, dass es Schlimmeres gab. Zumindest für diese eine Erkenntnis schuldete sie Laurent Dank. Sie lernte Laurent kurz nach ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag in der Rue
Ramponau kennen, als sie vor dem Haus der Schwestern von Nazareth für ihr wöchentliches Lebensmittelpaket anstand. Auch Laurent stammte aus der Gegend um Menilmontant. Er war zehn Jahre älter als sie und sah noch älter aus. Sein Gang war gebückt, er hatte eine Glatze und trug eine Lederjacke mit zu langen Ärmeln. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sie ihn nach dem Namen des kleinen Hundes gefragt hatte, den er gerade Gassi führte. Der Terrier hieß Poupee, und Laurent erzählte ihr, dass erst der Hund sein Fressen bekäme, und zwar nur das Allerbeste, bevor er sich zum Essen an den Tisch setzte. Sie berichtete ihm von ihren
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