Das Sigma-Protokoll
- Ménards Schatten: So wurde ich seit Anfang der Fünfziger genannt. Als ihn dann der Kampf gegen den Lymphknotenkrebs, der ihn schließlich besiegen sollte, immer mehr schwächte, verließen sich er und Trianon zunehmend auf mein Urteil. Meine Ideen waren zwar kühn, neuartig und scheinbar verrückt, wurden aber binnen kürzester Zeit überall kopiert. So wie ich ihn studierte, so studierte Ménard auch mich, und zwar gleichzeitig mit Distanz wie mit ehrlicher Zuneigung. Wir waren Menschen, in denen diese beiden Eigenschaften problemlos miteinander auskamen.
Trotz aller Privilegien spürte ich schon länger, dass es da ein letztes Heiligtum gab, zu dem er mir keinen Zutritt gewährte. Er machte Reisen, über die ich nicht informiert war, und nahm Geldüberweisungen vor, die ich nicht verstand. Zu diesem Komplex
duldete er keine Fragen. Doch dann kam der Tag, an dem er mich in Kreise einführte, die mir fremd waren: in eine Organisation, die Sie unter dem Namen Sigma kennen.
Ich war erst Anfang zwanzig und immer noch Ménards und Trianons Wunderkind. Was ich nun kennen lernte, traf mich völlig unvorbereitet. Das erste Treffen, an dem ich teilnahm, fand in einem Château in der Schweiz statt, einem prächtigen alten Schloss auf einem abgeschiedenen, riesigen Stück Land, das einem der Gründer Sigmas gehörte. Die Sicherheitsvorkehrungen waren immens. Sogar die Bäume und Büsche im Park des Schlosses waren so gepflanzt, dass Personen unbemerkt auf das Anwesen gelangen oder es wieder verlassen konnten. Bei meinem ersten Besuch habe ich nichts von der Ankunft eines anderen Teilnehmers bemerkt. Kein Abhörgerät gleich welcher Art, hätte man durch die Schranken aus hoch- und niederfrequenten elektromagnetischen Wellen schmuggeln können. Die Technologie war das Beste vom Besten. Alle Metallgegenstände, die man bei sich führte, musste man abgeben. Sie wurden in Osmiumcontainern aufbewahrt, da die Wellen zum Beispiel eine Armbanduhr sofort zum Stillstand gebracht hätten. Menard und ich trafen am Abend ein und wurden sofort zu unseren Zimmern gebracht: Menard zu einer luxuriösen Suite mit Blick auf einen kleinen Gletschersee, ich in das nicht ganz so prächtige, aber immer noch außerordentlich komfortable Nebenzimmer.
Die Besprechungen begannen am nächsten Morgen. Worüber genau gesprochen wurde, ist mir entfallen. Man knüpfte an frühere, mir unbekannte Unterredungen an, sodass ich kaum verstand, worum es ging. Die Gesichter waren mir allerdings ganz und gar nicht unbekannt. Es war eine fast surreale Erfahrung, wie von einem Science-Fiction-Autor erfunden. Wegen seines Reichtums, seiner Macht und seiner visionären Kraft gab es nur wenige, die man mit Menard auf eine Stufe stellen konnte. Doch die, die es gab, die waren hier versammelt. Die Besitzer zweier mächtiger, miteinander konkurrierender Stahlkonzerne. Der Kopf von Amerikas größtem Hersteller von Elektrogeräten. Vorstandsvorsitzende aus Schwerindustrie-, Petrochemie-, Technologieunternehmen. Die Männer, die dafür verantwortlich waren, dass man das 20. das amerikanische Jahrhundert nannte. Außerdem
ihre Pendants aus Europa, der berühmteste Medienmogul der Welt und Direktoren von gewaltigen Portfolio-Gesellschaften. Männer, die zusammen mehr Vermögenswerte kontrollierten, als das Bruttoinlandsprodukt der meisten Länder der Erde zusammengenommen ausmachte.
An diesem Tag wurde mein Weltbild zerstört, ein für alle Mal.
Im Geschichtsunterricht lernen die Kinder die Namen und Gesichter politischer und militärischer Führer kennen. Churchill und Eisenhower, Franco und de Gaulle, Atlee und Macmillan. Bedeutende Männer, sicher. Aber letztlich doch nicht viel mehr als Wortführer. Bessere Pressesprecher und Angestellte. Marionetten. Dafür sorgte Sigma. Die wirklichen Männer an den Schalthebeln der Macht saßen an diesem langen Mahagonitisch. Sie waren die wahren Puppenspieler.
Während man Kaffee trank, an Gebäck herumknabberte und sich unterhielt, dämmerte mir allmählich, worum es eigentlich ging: Ich wohnte einem Treffen der Vorstandsvorsitzenden einer gewaltigen Organisation bei, die alle Großkonzerne kontrollierte.
Ein Rat von Vorstandsvorsitzenden, der die Geschichte der westlichen Welt bestimmte.
Was mir von diesem Tag in Erinnerung blieb, waren nicht so sehr die Gespräche, sondern die Einstellung dieser Männer, ihre Vision. Diese professionellen Manager hatten keine Zeit für nutzlose oder irrationale Gefühlsregungen. Sie
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