Das Sigma-Protokoll
glaubten an die Steigerung von Produktivität, an Errichtung stabiler Verhältnisse, an die sinnvolle Konzentration von Kapital. Sie glaubten, dass das Schicksal der menschlichen Rasse viel zu wichtig sei, um es dem Spiel der Massen zu überlassen. Das war die Lehre, die sie aus den beiden Weltkriegen gezogen hatten. Die Geschichte brauchte ein Management. Entscheidungen mussten leidenschaftslos von professionellen Köpfen getroffen werden. Der drohende Kommunismus verhieß Chaos, Aufruhr und Umverteilung des Besitzes. Das alles verlieh dem Projekt höchste Dringlichkeit. Die Gefahr war keine, die in ferner Zukunft lauerte, sondern eine, der man schon morgen entgegentreten musste.
Sie waren sich einig über die Notwendigkeit, eine Welt zu schaffen, in der der wahre Unternehmergeist sich unbehelligt
von Neid und Habsucht der Massen entfalten konnte. Wer will schon seinen Kindern eine Welt unter der Knute des Kommunismus oder des Faschismus hinterlassen? Der moderne Kapitalismus wies uns den Weg. Allerdings musste der Industriestaat beschützt werden, er musste gegen zukünftige Stürme gewappnet sein. Das war die Vision. Sie war zwar schon vor dem Krieg in der Weltwirtschaftskrise entstanden, doch sie gewann durch die Zerstörungen des Krieges erst recht an Überzeugungskraft.
Ich selbst habe an diesem Tag nur wenig gesagt. Nicht etwa, weil ich schüchtern wäre, mir hatte es schlicht die Sprache verschlagen. Ich fühlte mich als Pygmäe unter Riesen. Ich war der Bauer, der an der Tafel der Könige speiste. Ich stand praktisch neben mir und war die ganze Zeit nur damit beschäftigt, es meinem Mentor gleichzutun und einen so leidenschaftslosen Eindruck wie möglich zu machen. Das waren meine ersten Stunden bei Sigma. Es war der Anfang eines neuen Lebens. Der tägliche Zeitungsstoff - Streiks, Parteiversammlungen, Attentate - war plötzlich keine Ansammlung zufälliger Ereignisse mehr. Plötzlich konnte man dahinter ein Muster erkennen: Eine komplexe und komplizierte Maschine produzierte komplexe und komplizierte Machenschaften.
Damit da kein Missverständnis entsteht: Sigmas Gründer fuhren gewaltige Profite ein. Ihre Unternehmen florierten durch die Bank, während viele Unternehmen, die nicht zu Sigma gehörten, vom Markt verschwanden. Doch die wirkliche Triebfeder war die Vision: Der Westen musste einig gegen einen gemeinsamen Gegner stehen, oder er würde degenerieren und untergehen. Seine Wehrhaftigkeit musste mit Diskretion und Klugheit verbessert werden. Zu aggressive oder schnelle Vorstöße hätten zu einem Rückschlag führen können. Augenmaß war gefragt. Eine Abteilung konzentrierte sich darauf, mit Attentaten intellektuelle Köpfe der Linken auszuschalten. Eine andere schuf - und das ist wörtlich zu verstehen - mit Gruppierungen wie der Baader-Meinhof-Bande oder den Roten Brigaden die Art von extremistischen Gruppen, die den moderaten Kräften der Linken entgegenwirkten.
Die westliche und ein großer Teil der restlichen Welt waren
empfänglich für Sigmas Dienste und akzeptierten auch die sie begleitenden Erklärungen. In Italien schufen wir ein Netzwerk aus zwanzigtausend ›Bürger-Komitees‹, über die wir Geld in die Democrazia Cristiana schleusten. Wie vieles andere wurde auch der Marshall-Plan von Sigma auf die Beine gestellt. Sehr oft war Sigma sogar für den Wortlaut von Gesetzestexten verantwortlich, die im amerikanischen Kongress eingebracht und dann von ihm verabschiedet wurden. Alle europäischen Wiederaufbauprogramme, alle Organisationen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und schließlich sogar die NATO sind Organe von Sigma. Es war ein kompliziertes Räderwerk, das deshalb unsichtbar blieb, weil es allgegenwärtig war. In jedem Schulbuch finden Sie im Text über den Wiederaufbau Europas ein Foto von General Marshall. Jede Einzelheit des nach ihm benannten Plans war lange vor der Umsetzung von uns entworfen und abgesegnet worden.
Niemand ist je auf den Gedanken gekommen, dass der Westen von einem geheimen Konsortium beherrscht wurde. Das war unvorstellbar. Wenn das nämlich stimmte, dann wäre ja über die Hälfte der Welt nur die Filiale eines einzigen Megakonzerns gewesen.
Sigma.
Im Laufe der Zeit starben die alten Moguln und wurden von ihren jüngeren Protegés ersetzt. Sigma lebte fort und reformierte sich, wenn nötig. Wir waren nie Ideologen, wir handelten immer pragmatisch. Sigmas Ziel war, die Welt neu zu erschaffen. Sigma wollte nicht weniger als die Urheberschaft für die
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