Das Sigma-Protokoll
erhalten, dass Strasser in Buenos Aires lebt?«
Peralta lehnte sich in seinem quietschenden Schreibtischstuhl zurück. »Miss Reyes«, sagte er im Tonfall eines Mannes, der zu einer köstlichen Klatschgeschichte anhebt. »Vor einigen Jahren ging in meinem Büro ein glaubhafter Hinweis von einer Frau ein, die in Belgrano lebte, einem der vornehmsten Vororte der Stadt. Sie hätte den SS Hauptsturmführer Alois Brunner gesehen, als er gerade ein Haus in ihrer Nachbarschaft verließ. Sofort ordnete ich an, das Haus rund um die Uhr zu überwachen. Die Frau hatte Recht gehabt, das Gesicht des Mannes stimmte mit unseren
Fotos von Brunner überein. Wir haben uns den Gentleman vorgeknöpft, und er hielt uns seinen alten deutschen Pass vor die Nase - mit dem Dritte-Reich-Adler und dem großen J für Jude. Der Mann hieß Katz.« Peralta richtete sich wieder auf. »Wie, werte Dame, würden Sie sich bei so einem Mann entschuldigen? Bei jemandem, der im KZ gesessen hat?«
»Ich kann verstehen, dass das eine furchtbar peinliche Situation war«, sagte Anna gleichmütig. »Aber unsere Informationen über Strasser sind stichhaltig. Dateline filmt schon das Hintergrundmaterial. In diesem Moment, während wir hier sprechen. Das würden die sonst nie tun.«
»Dateline, sechzig Minutes, zwanzig-zwanzig- ich kenne diese Nachrichtenmagazine. Wenn Sie so überzeugt davon wären, dass Josef Strasser in Argentinien lebt, dann hätten sie ihn doch schon lange aus seinem Bau getrieben. Oder etwa nicht?« Er fixierte sie mit seinen Eidechsenaugen.
Sie konnte ihm die Wahrheit nicht sagen. Dass sie nämlich an Strassers Nazi-Vergangenheit überhaupt nicht interessiert war, sondern an seinen Aktivitäten in den Jahren nach Hitler, als er sich den selbst ernannten Architekten der Nachkriegszeit angeschlossen hatte. »Wo soll ich Ihrer Meinung nach mit meinen Nachforschungen beginnen?«
»Ich habe keinen Schimmer. Wenn wir etwas über einen Kriegsverbrecher in unserem Land wüssten, hätten wir ihn längst verhaftet. Ich kann Ihnen nur eins sagen: Es gibt keine mehr.« Er beugte sich vor, faltete die Hände und schaute sie an.
»Tatsächlich«, sagte Anna und tat so, als machte sie sich eine Notiz.
»Die Zeiten haben sich geändert. Die alten Zeiten, als ein Josef Mengele unbehelligt unter seinem richtigen Namen hier leben konnte, sind endgültig vorbei. Die Tage der Perón-Diktatur sind Vergangenheit. Argentinien ist eine Demokratie. Josef Schwammberger und Erich Priebke wurden ausgeliefert. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann wir das letzte Mal einen Nazi verhaftet haben.«
Anna kritzelte wieder etwas in ihren Block. »Existieren Unterlagen der Einwanderungsbehörde über Leute, die in den Vierzigern und Fünfzigern ins Land gekommen sind?«
Peralta runzelte die Stirn. »Vielleicht gibt’s da noch was, kann sein. Karteikarten. Damals hat man das alles noch per Hand gemacht. Aber das ist alles ein halbes Jahrhundert her. Und unsere Küste ist Tausende von Kilometern lang. Wer weiß, wie viele Ruder- oder Fischerboote damals Leute ins Land gebracht haben, die dann auf den zahllosen Ranches untergetaucht sind? Das war unmöglich zu kontrollieren.«
Er breitete wieder die Arme aus. »1949 hat dann Perón eine Generalamnestie erlassen für alle Personen, die unter falschem Namen eingewandert sind. Selbst wenn Josef Strasser sich in Argentinien aufhält, ist es höchst unwahrscheinlich, dass es irgendwelche Unterlagen der Einwanderungsbehörden darüber gibt. Sie könnten runter nach Bariloche fahren und da Nachforschungen anstellen. Das ist ein Wintersportort. Die Deutschen lieben Bariloche. Erinnert sie an Bayern. Große Hoffnungen würde ich mir allerdings nicht machen. Tut mir Leid, dass ich Sie enttäuschen muss.«
Keine zwei Minuten, nachdem Anna Navarro das Büro von Miguel Antonio Peralta verlassen hatte, griff dieser zum Telefon: »Mauricio, ich hatte gerade hochinteressanten Besuch.«
Wien
In einem modernen Bürogebäude in Wien überwachte ein gelangweilter Mann, wie ein Trupp Handwerker die Gipsplattenwände, die einen Empfangsbereich und einen Konferenzraum abgeteilt hatten, abbauten und in den Lastenaufzug schoben. Es folgten ein Konferenztisch mit Resopalplatte, ein einfacher Schreibtisch aus Metall und diverse Büroeinrichtungsgegenstände - darunter ein Computer und die Attrappe einer Telefonanlage.
Der Mann trug eine Brille, war in mittleren Jahren und Amerikaner. Seit etwa zehn Jahren wurde er dafür
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