Das Sigma-Protokoll
falls Ihnen das gefährlich genug ist.«
»Dürfte ich es bitte haben? Sie bekommen es später zurück.«
Ben gab es ihm. Der Priester tastete mit der freien Hand Brust
und Rücken von Bens Jacke ab. Dann die Achseln, die Taille, die Beine, die Fußknöchel. Schnell und gekonnt.
»Kann ich Ihren Pass oder einen anderen Ausweis sehen?«
Ben gab ihm seinen Michael-Johnson-Pass und eine Visitenkarte. Erst am Morgen hatte er sich in einem Copyshop an der Avenida de Julio 9 fünfzig Stück machen lassen. Eilauftrag, hatte extra gekostet. Eine Stunde später war er Michael Johnson gewesen, Sozius einer fiktiven Anwaltskanzlei in Manhattan.
Der Priester schaute sich Pass und Visitenkarte genau an.
Ben schaltete jetzt auf stocksauer. »Jetzt passen Sie mal auf... Ich hab keine Zeit für Ihren Quatsch. Und stecken Sie endlich das Ding da weg.«
Ohne ihn auch nur anzuschauen, deutete der Priester auf eine Tür und sagte: »Hier geht’s lang.«
Dann öffnete er die Tür, und Ben blickte hinaus in einen winzigen Innenhof, wo in der blendenden Sonne ein Kastenwagen mit offener Schiebetür stand.
»Bitte.« Die Geste mit der Pistole war eindeutig: einsteigen!
»Tut mir Leid«, sagte Ben. Das sollte der Sohn der Witwe Lenz sein? Höchst unwahrscheinlich: Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Jürgen, der ja zumindest sein Halbbruder sein musste. »Kommt gar nicht infrage.«
Der Priester schaute ihn zornig an. »Es steht Ihnen natürlich frei, wieder zu gehen. Wenn Sie mit meiner Mutter sprechen wollen, haben Sie allerdings keine andere Wahl.« Seine Stimme wurde versöhnlicher. »Sie müssen das verstehen. Dauernd tauchen irgendwelche Leute auf. Journalisten, Kopfgeldjäger, Verrückte, Mossad-Agenten. Man hat sie bedroht, man wollte einfach nicht glauben, dass ihr Mann schon tot ist. Alle dachten, dass er untergetaucht wäre. Wie Mengele. Ich lass jetzt keinen Fremden mehr zu ihr, bevor ich ihn nicht überprüft habe.«
»Sie sagen >ihr Mann<. Dann ist Lenz gar nicht Ihr Vater?«
»Mein Vater hat Lenz’ Witwe geheiratet. Sie hat beide überlebt. Eine starke Frau. Ich kümmere mich um sie. Steigen Sie jetzt ein.«
Diese Chance durfte er nicht auslassen. Er war nicht um die halbe Welt geflogen, um jetzt zu kneifen. Vielleicht führte der rätselhafte Priester ihn näher an die Wahrheit heran. Er zögerte kurz, dann stieg er ein.
Mit einem dumpfen Knall fiel die Schiebetür ins Schloss. Die einzige Lichtquelle im Innern war ein trübes Licht am Wagendach. Der Laderaum des Kastenwagens war bis auf eine umklappbare Sitzbank leer.
Diese Chance durfte er nicht auslassen.
Ben fragte sich, ob er nicht einen Riesenfehler gemacht hatte.
So verschwinden und sterben Menschen , dachte Ben. Ich bin zu einem wildfremden Mann in den Wagen gestiegen. Vielleicht gehört er zu einer dieser Gruppen, von denen Sonnenfeld gesprochen hat. Die alte Nazis verstecken und beschützen.
Nach etwa zwanzig Minuten hielt der Wagen an. Die Tür glitt nach hinten, und er sah eine Kopfsteinpflasterstraße. Durch das dichte Blätterdach der Bäume gelangten nur vereinzelte Sonnenstrahlen bis auf den Boden. Die Fahrt war so kurz gewesen, dass sie Buenos Aires nicht verlassen haben konnten. Im Vergleich zur Innenstadt war es eine andere Welt. Vogelgezwitscher, Klaviermusik - ganz leise, aber doch klar erkennbar. Es lag eine heitere Stille über der Straße.
Ben fühlte sich sofort besser.
Was wohl Anna zu seinem Ausflug sagen würde? Sie wäre sicher entsetzt darüber, dass er so ein Risiko eingegangen war. Mit Recht.
Sie standen vor einem zweigeschossigen Ziegelhaus mit Holzdach, das zwar nicht sonderlich groß war, aber sehr elegant wirkte. Die Fensterläden aus Holz waren alle geschlossen. Die Klaviermusik, eine Mozart-Sonate, schien aus dem Haus zu kommen. Ein hoher, verschnörkelter Zaun aus Schmiedeeisen umgab das Haus und den kleinen Vorgarten.
Der Priester fasste Ben am Ellbogen und half ihm aus dem Wagen. Die Pistole hatte er entweder im Auto gelassen, oder er hatte sie, was wahrscheinlicher war, unter seiner Robe versteckt. Am Tor tippte er auf einer Nummerntafel eine Zahlenkombination ein, worauf ein Summen ertönte und das Schloss aufsprang.
Im Innern des Hauses war es kühl und dunkel. Die Mozart-Musik kam aus dem Zimmer direkt vor ihnen. Ben hörte einen falschen Ton, und nach einer kurzen Pause begann die Passage von vorn. Das war keine Schallplatte, jemand saß am Klavier und spielte - und zwar hervorragend. Die alte
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