Das Sigma-Protokoll
feinsäuberlich beschriftet. Außer Alter, Gewicht und Größe war auch ein Datum vermerkt. Wofür stand das Datum? Für den Tag, an dem man der Mutter den Embryo, Fötus oder Säugling entrissen hatte?
Die Datumsangaben reichten von 1940 bis 1954.
Gerhard Lenz hatte Experimente an Babys und Kindern durchgeführt.
Das hier übertraf Bens Vorstellungskraft bei weitem. Der Mann war ein Monster... Aber wozu bewahrte man diese gespenstischen Beweisstücke auf?
Ben war wie betäubt. Er stolperte zur Tür.
Dabei fiel sein Blick auf ein Metallregal, das mit Tüchern verhängt war. Er zog den Stoff zur Seite und entdeckte Glastanks, die mindestens eins fünfzig hoch waren und einen Durchmesser von einem halben Meter hatten. In ihnen schwammen keine Föten, sondern Kinder.
Kleine, verschrumpelte Kinder - von winzigen Neugeborenen über Kleinkinder bis zu größeren Kindern von sieben oder acht Jahren.
Kinder, so nahm Ben an, die an der Krankheit der vorzeitigen Vergreisung litten. Am Hutchinson-Gilford-Syndrom.
Gesichter von alten Männern und Frauen.
Er bekam eine Gänsehaut.
Kinder. Tote Kinder.
Er dachte an Christophs Vater und dessen düstere Wohnung. Wenigstens konnte er am Ende seines Lebens noch ein paar schöne Tage genießen.
Ein Privatsanatorium, hatte die Frau von der Stiftung gesagt. Sehr exklusiv, sehr abgeschieden, sehr luxuriös.
Benommen öffnete er die Tür, um den Raum endlich zu verlassen, da hörte er Schritte. Er lehnte die Tür wieder an und schaute durch den Spalt hinaus auf den Korridor. Wieder ein Mann in weißem Overall. Er schloss leise die Tür. Als die Wache an der Tür vorbeiging, räusperte Ben sich laut. Die Schritte verstummten.
Im nächsten Augenblick passierte genau das, was Ben erwartet hatte. Der Mann steckte den Kopf zur Tür herein, und Ben schlug ihm mit dem Pistolenknauf auf den Hinterkopf. Kopfüber stürzte der Wachmann in den Raum.
Ben schloss die Tür, beugte sich zu dem Mann hinunter und ertastete am Hals die Drosselvene. Gut. Er lebte, würde aber für einige Zeit bewusstlos sein.
Er schnallte ihm Gürtel und Halfter mit der Walther PPK ab und zog ihm dann den weißen Overall aus.
Hastig entledigte sich Ben seiner feuchten Sachen und schlüpfte in den Overall. Etwas zu groß, aber es ging. Die Schuhe passten, das war wichtiger. Dann checkte er das Magazin der Walther. Es war voll, acht Patronen und eine im Lauf.
Er hatte jetzt drei Waffen, ein kleines Arsenal. In den Taschen des Overalls fand er eine angebrochene Schachtel Zigaretten und eine elektronische Chipkarte.
Dann schaute er nach, ob die Luft rein war, und schlüpfte aus dem Raum. Er ging durch den Korridor bis zu einem Aufzug mit Doppeltüren aus gebürstetem Stahl und drückte auf den Knopf.
Ein einzelner dezenter Klingelton ertönte, und die Türen glitten auseinander. Die Kabine war mit grauem Dämmmaterial ausgeschlagen. Er betrat den Aufzug, inspizierte die Tastaturtafel, steckte die Chipkarte des Wachmannes in den Schlitz, der sich unter den Tasten für die Stockwerke befand, und drückte auf EG.
Die Türen schlossen sich. Der Aufzug setzte sich ruckartig, aber lautlos in Bewegung und blieb schon wenige Sekunden später wieder stehen. Als die Türen auseinander glitten, befand sich Ben in einer anderen Welt.
Vor ihm lag ein hell erleuchteter, ultramodern gestylter Korridor, der jedem blühenden Großunternehmen zur Ehre gereicht hätte.
Dezent grauer Teppichboden, die Wände nicht aus grobem Stein wie im Keller, sondern mit glatten weißen Fliesen verkleidet. Zwei Männer in weißen Kitteln - Ärzte oder Klinikangestellte - gingen vorbei. Der eine schob einen Metallwagen. Der andere schaute zwar in Bens Richtung, schien ihn aber gar nicht wahrzunehmen.
Zielstrebig schritt Ben durch den Korridor. Zwei junge Asiatinnen, die ebenfalls weiße Kittel trugen, standen in der Tür eines Labors und unterhielten sich in einer Sprache, die Ben nicht kannte. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht weiter auf ihn achteten.
Der Korridor führte in eine große Halle, die beleuchtet wurde von einer diffusen Mischung aus weichem weißen Kunstlicht und dem bernsteinfarbenen Licht des Spätnachmittags, das durch die hohen Spitzbogenfenster fiel. Die raffiniert gestaltete moderne Lobby war früher wahrscheinlich die Eingangshalle des Schlosses gewesen. Eine Steintreppe schwang sich elegant in den ersten Stock empor. Von der Lobby gingen mehrere Türen ab. An jeder hing ein weißes Schild, auf
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