Das Sigma-Protokoll
Fortschritt hätten widmen können, anstatt um ihr eigenes Überleben zu kämpfen. Wie viel weiter wären wir alle, wenn die besten und intelligentesten unter uns den Felsbrocken immer weiter den Berg hätten hinaufrollen können. Stattdessen
benötigen wir, wenn der Gipfel endlich in Sichtweite ist, all unsere Kraft, um nicht im Pflegeheim oder auf dem Friedhof zu landen.«
Jürgen Lenz lächelte traurig. »Was immer Sie von ihm denken mögen, Gerhard Lenz war ein brillanter Kopf.« Ben fiel wieder die ungelöste Frage ein: War Jürgen Lenz wirklich der Sohn von Gerhard Lenz? »Die meisten seiner Theorien führten zu nichts. Aber er war davon überzeugt, dass man das Geheimnis des Alterungsprozesses in den menschlichen Zellen findet. Und zwar schon vor 1953, bevor Watson und Crick die DNA entschlüsselten. Er war wirklich ein bemerkenswerter Mann. In vielerlei Dingen sehr weitsichtig. Er wusste, dass die Nazis den Krieg verlieren würden. Er wusste, dass Hitler von der Bildfläche verschwinden und damit auch die Geldquelle für seine Forschungen versiegen würde. Er wollte sicherstellen, dass er seine Arbeit fortsetzen konnte. Und wissen Sie auch, warum das so wichtig war, Benjamin? Ich darf Sie doch Benjamin nennen, oder?«
Ben reagierte nicht auf die Frage. Wie betäubt ließ er den Blick durch das riesige Laboratorium schweifen.
Er war da und gleichzeitig ganz woanders.
Er und Anna lagen eng umschlungen im Bett. Ihre Körper waren feucht und warm. Er sah ihre Tränen, als er ihr von Peter erzählte. Er saß in dem Landgasthaus in der Schweiz, als die Schüsse fielen. Er schaute auf den blutüberströmten Körper von Peter hinunter.
»Außergewöhnliche Aufgaben erfordern außergewöhnliche Mittel. Hitler schwafelte über Stabilität, während er diese im gleichen Augenblick zerstörte. So wie es andere Tyrannen in anderen Teilen der Welt machten. Sigma leistete jedoch tatsächlich einen Beitrag zur Befriedung des Planeten. Die Gründer der Organisation wussten, was zu tun war. Sie waren nur einer Weltanschauung verpflichtet: der Vernunft. Keinesfalls durften hinter den bemerkenswerten technologischen Fortschritten im vergangenen Jahrhundert die Fortschritte beim Management der menschlichen Rasse zurückstehen. Wissenschaft und Politik durften nicht länger als getrennt operierende Bereiche betrachtet werden.«
Ben war von seinen gedanklichen Ausflügen zurückgekehrt
und hörte Lenz wieder konzentriert zu. »Das ist nicht logisch, was Sie da sagen. Die Technologie war dem Wahnsinn nicht gerade selten zu Diensten. Totalitarismus stützt sich ganz wesentlich auf Massenkommunikation. Und der Holocaust wäre ohne die Wissenschaft unmöglich gewesen.«
»Zwei Gründe mehr für die Notwendigkeit von Sigma - nämlich als Bollwerk gegen derartigen Wahnsinn. Das ist doch logisch, oder? Ein einziger Verrückter hat Europa an den Rand der Anarchie getrieben. Schon vorher hatte eine kleine Gruppe Agitatoren das riesige Russland der Macht Peters des Großen entrissen und in einen brodelnden Hexenkessel verwandelt. Der Irrsinn des Mobs verstärkt den Irrsinn des Individuums. Das hat uns das 20. Jahrhundert gelehrt. Die Zukunft der westlichen Zivilisation war zu wichtig, als dass man sie dem Zugriff des Mobs hätte überlassen dürfen. Der Krieg hatte ein gefährliches Vakuum hinterlassen. Die Zivilgesellschaft war überall in Auflösung begriffen. Dank einer kleinen, einflussreichen und straff organisierten Gruppe Männer konnte die Ordnung wieder hergestellt werden. Die Macht übten sie selbstredend nur indirekt aus. Man nahm Einfluss auf die jeweiligen Machthaber. Diese Manipulationen wurden natürlich durch die offiziellen Instrumentarien der Regierungsgewalt verschleiert. Erleuchtete Führerschaft war unabdingbar vonnöten. Führerschaft, die in den Kulissen wirkte.«
»Und was stellte sicher, dass diese Führerschaft auch eine wirklich erleuchtete sein würde?«
»Ich hatte Ihnen ja schon gesagt, dass Gerhard Lenz ein sehr weitsichtiger Mann war. Das Gleiche galt auch für die mit ihm verbündeten Industriellen. Ich komme zurück auf den entscheidenden Punkt: die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik. Sie mussten sich gegenseitig ergänzen. Was der eine Bereich nicht leisten konnte, musste vom anderen erledigt werden.«
Ben schüttelte den Kopf. »Da ist noch etwas, das mir nicht einleuchtet. Viele dieser Industriellen waren in ihren Heimatländern wahre Volkshelden. Wie konnten die sich mit Nazifiguren
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