Das Sigma-Protokoll
Redefluss durch den Kellner mit der Suppe gestört wird.
»Was haben Sie mit Anna gemacht?«, fragte Ben mit fester Stimme.
»Genau das wollte ich Sie fragen«, erwiderte Lenz. »Sie hat darauf bestanden, sich in der Klinik etwas umsehen zu dürfen. Was ich ihr natürlich nicht abschlagen konnte. Bedauerlicherweise
ist sie uns abhanden gekommen. Augenscheinlich weiß sie, wie man Sicherheitssystemen ein Schnippchen schlägt.«
Ben fragte sich, was davon der Wahrheit entsprach. Wollte er ihm nur auf seine verklausulierte Art zu verstehen geben, dass er sie nicht sehen durfte? Was, wenn er log? Wenn er ihm diese Geschichte nur auftischte, weil er wusste, dass Ben sie glauben wollte? Damit er nicht auf die Idee käme, dass sie schon tot wäre.
Andererseits klang es logisch, was er sagte. Anna könnte sich Lenz’ Überwachung entzogen haben, um die Klinik auf eigene Faust zu inspizieren.
»Ich möchte Sie warnen«, sagte Ben. »Falls Anna irgendetwas zustoßen sollte...«
»Aber Benjamin, wie kommen Sie nur auf solche Gedanken?« Lenz steckte die Hände in die Taschen und senkte den Kopf. »Schließlich ist das hier eine Klinik. Wir sind dem Leben verpflichtet.«
»Ich fürchte, ich habe schon zu viel gesehen, um das zu glauben.«
»Was immer Sie gesehen haben mögen... Ich glaube kaum, dass Sie wirklich viel begriffen haben«, sagte Lenz. »Ich bin sicher, dass Sie unsere Arbeit anerkennen, sobald Ihnen deren Bedeutung wirklich klar geworden ist.« Er machte den beiden Wachmännern ein Zeichen, Ben loszulassen. »Was sich hier im Augenblick vollzieht, ist die Krönung eines Lebenswerks.«
Ben sagte nichts. An Flucht war nicht zu denken. Er wollte auch gar nicht fliehen. Er wollte bleiben. Er musste bleiben. Der Mann hatte seinen Bruder getötet. Und Anna? Hatte er auch Anna getötet?
Lenz’ Stimme riss ihn aus den Gedanken. »Was war Hitlers alles beherrschende Obsession? Das Tausendjährige Reich, der ganze Unsinn. Und wie lange hat es gedauert? Zwölf Jahre. Er glaubte, dass die arischen Blutlinien durch die Vermischung der Rassen verseucht wären. Könne man die Reinheit der Herrenrasse, so sein Glaube, wieder herstellen, so würde sie auf ewig überdauern. Blödsinn, sicher. Aber eins muss man dem alten Spinner zugute halten. Er war entschlossen, sich und den anderen führenden Persönlichkeiten des Reiches ein längeres Leben zu bescheren. Er hatte eine Gruppe brillanter Wissenschaftler
darauf angesetzt und ihnen völlig freie Hand gelassen. Geld spielte keine Rolle. Experimente mit KZ-Gefangenen? Kein Problem. Tun Sie, was Sie für nötig halten.«
»Mit freundlicher Unterstützung des schlimmsten Monsters des 20. Jahrhunderts«, sagte Ben.
»Ein wahnsinniger Despot, keine Frage. Ein tausendjähriges Reich, ewige Stabilität - lächerliches Gefasel. Und das aus dem Munde eines äußerst labilen Menschen. Doch die Verknüpfung der beiden urmenschlichen Bedürfnisse nach langem Leben und Stabilität machte durchaus Sinn.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»In einer Hinsicht ist der Mensch denkbar schlecht konstruiert. Von allen Lebewesen benötigt er die längste Zeit für Schwangerschaft und Kindheit, das heißt, bis er ausgewachsen ist. Und zwar physisch wie intellektuell. Zwei Jahrzehnte dauert der physische Prozess, und oft vergeht ein weiteres Jahrzehnt, bis er auf dem von ihm gewählten beruflichen Feld zur Vollkommenheit gelangt. Jemand mit einer langwierigen Ausbildung, zum Beispiel zum Chirurgen, kann durchaus schon im vierten Lebensjahrzehnt stehen, bis er es in seinem Beruf zu voller Leistungsfähigkeit gebracht hat. Der Prozess des Lernens und Vervollkommnens setzt sich fort, bis er einen Höhepunkt erreicht. Und was passiert dann? Die Augen beginnen zu schwächeln, die Finger fangen an zu zittern. Die Zeit zerstört, was er sich im Laufe eines halben Lebens aufgebaut hat. Das ist ein schlechter Scherz. Uns ergeht es wie Sisyphus. Sobald wir den Felsen bis zum Gipfel hochgewuchtet haben, rollt er wieder hinunter. Man hat mir berichtet, dass Sie früher Lehrer waren. Bedenken Sie, wie viel Kraft und Zeit die Gesellschaft aufwendet, nur um sich ihre Lebensfähigkeit zu erhalten - indem sie Bräuche, Wissen, Fähigkeiten, also die Stützen, das Getriebe der Zivilisation weitergibt. Das ist ein immenser Aufwand, den wir für den Kampf gegen die Zeit betreiben. Wie viel weiter hätte es unsere Spezies bringen können, wenn sich die politischen und intellektuellen Eliten ausschließlich dem
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