Das Sigma-Protokoll
seinen bewunderten Bruder verdrängt. Es schnürte ihm den Hals zu, und seine Augen wurden feucht.
Nicht dran denken, sagte er sich. Nur nicht an Peter denken. Gerade hier, in diesem Haus, in dem wir Verstecken gespielt und uns gekabbelt haben, in dem wir mitten in der Nacht Komplotte geschmiedet, in dem wir geschrien, gelacht und geweint haben.
Peter ist tot, und jetzt musst du für ihn weitermachen.
Ben wusste nicht, wie er anfangen, wie er das Thema anpacken sollte. Im Flugzeug von Basel in die USA hatte er es noch geübt, aber jetzt war alles wie weggeblasen. Von Peters Wiederauftauchen und seiner Ermordung wollte er seinem Vater nichts erzählen, so viel war sicher. Wozu auch? Warum den alten Mann quälen? Für Max Hartman war Peter schon vor Jahren gestorben. Wozu sollte die Wahrheit gut sein, jetzt, da er wirklich tot war?
Wie auch immer, die direkte Art war nie Bens Stil gewesen. Er ließ seinen Vater vom Geschäft erzählen, ließ sich von ihm über
den Stand seiner Geschäftsbereiche ausfragen. Mann, dachte er, der alte Herr ist immer noch mächtig auf Zack. Hin und wieder versuchte er das Thema zu wechseln, aber natürlich ergab sich nie eine passende Gelegenheit, um eine Frage einzuflechten wie: ›Ach, Dad, was ich dich noch fragen wollte... Warst du eigentlich ein Nazi?<«
Schließlich startete Ben einen Versuch, der ihn zumindest in die Richtung führte. »Die letzten paar Tage in der Schweiz ist mir zum ersten Mal aufgegangen, dass ich eigentlich überhaupt nichts von deiner Zeit in Deutschland weiß.«
Die Augen hinter den dicken Brillengläsern schienen noch größer zu werden. Er beugte sich vor. »Woher auf einmal das Interesse für Familiengeschichte?«
»Schätze, es hat was mit Peter zu tun. War das erste Mal seit seinem Tod, dass ich wieder in der Schweiz war.«
Max schaute hinunter auf seine Hände. »Ich mache mir keine Gedanken über die Vergangenheit, das weißt du ja. Habe ich nie. Ich schaue immer nur nach vorn, nie zurück.«
»Wir haben nie über die Zeit in Dachau gesprochen.«
»Das gibt’s nicht viel zu erzählen. Man hat mich eingeliefert, und ich hatte das Glück zu überleben. Am 29. April 1945 haben sie uns befreit. Das Datum ist in meinem Gedächtnis eingebrannt. Ansonsten würde ich diesen Abschnitt meines Lebens am liebsten vergessen.«
Ben atmete tief ein. Es war so weit. Er war sich völlig darüber im Klaren, dass er in den nächsten Minuten das Verhältnis zu seinem Vater radikal ändern, dass er die Verbindung zwischen ihnen auf immer kappen würde. »Dein Name steht nicht auf der Liste der von den Alliierten befreiten Gefangenen.«
Es war ein Bluff. Er wartete gespannt auf die Reaktion.
Max schaute Ben lange an. Dann - zu Bens Überraschung - lächelte er. »Mit historischen Dokumenten muss man immer vorsichtig sein. Wenn totales Chaos herrscht, sind solche Listen sehr unzuverlässig. Namen werden falsch geschrieben oder tauchen gar nicht auf. Wenn irgendein Sergeant der Army meinen Namen nicht auf seiner Liste hatte... Was soll’s?«
»Du warst nicht in Dachau, stimmt’s?«, fragte Ben ruhig.
Sein Vater drehte sich samt Stuhl langsam um und wandte Ben
den Rücken zu. Seine Stimme hörte sich etwas blechern an. Sie schien von weit her zu kommen. »Lächerlich.«
Ben spürte ein Ziehen im Magen. »Ja oder nein?«
Max drehte sich wieder um und schaute ihn ausdruckslos an. Die hauchdünne Haut über seinen Backenknochen war leicht gerötet. »Es gibt Leute, die leben ganz gut von der Leugnung des Holocaust. So genannte Historiker. Schriftsteller. Schreiben Bücher und Artikel, in denen sie behaupten, dass das alles eine Verschwörung, eine Lüge ist. Dass es die Ermordung von Millionen von Juden nie gegeben hat.«
Ben spürte seinen Herzschlag. Sein Mund war trocken. »Du warst Obersturmführer in Hitlers SS. Dein Name steht in einer Urkunde - einer Gründungsurkunde, die die führenden Mitglieder einer geheimen Organisation auflistet. Und du warst der Finanzchef dieser Organisation.«
Die Antwort seines Vaters war nurmehr ein krächzendes Flüstern. »Ich werde mir das nicht weiter anhören.«
»Es stimmt, oder?«
»Du hast keine Ahnung, wovon du redest.«
»Deshalb hast du nie über Dachau gesprochen. Weil alles erfunden war. Du bist nie dort gewesen. Du warst ein Nazi.«
»Wie kannst du nur so was sagen!«, rief der alte Mann aufgebracht. »Wie kannst du das nur glauben? Wie kannst du es wagen, mich derart zu beleidigen?
»Diese
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