Das silberne Schiff - [Roman]
zurück und rannte los. Meine Sinne erinnerten sich an den Jungen, der gejagt hatte, der sich wunderbar lebendig gefühlt hatte, sicheren Fußes und wachsam nach Anzeichen für Tatzenkatzen oder Dämonenhunden Ausschau haltend. Doch ich nahm keine frischen Gerüche wahr und sah keine Spuren im Staub von Fremont, der unter mir aufwirbelte.
Als ich ihnen näher kam, hielt ich an, weil ich die Gebras nicht erschrecken wollte, und winkte mit beiden Armen.
»Joseph!«, schrie Chelo, gefolgt von Kayleen. Beide jubelten. Pure Freude erfasste meinen ganzen Körper, eine Leichtigkeit, als könnte ich mich über das Gras erheben und fliegen.
Sie lebte!
Wir waren also doch noch rechtzeitig gekommen.
Kayleen, Chelo und Liam ritten nebeneinander genau auf mich zu. Wieder jubelten sie, und ich runzelte die Stirn. Ich hörte einen Unterton der Verzweiflung in ihren Stimmen, etwas Wildes.
Sie waren magerer geworden, und ihre Wangenknochen traten sichtbar hervor. Chelo hatte ihr Haar stets schulterlang getragen, aber nun war es genauso lang wie das von Kayleen, ein nachlässig zusammengebundener Pferdeschwanz, der ihr über die rechte Brust hing. Sie stieg hastig ab, ließ die Zügel fallen und schien ihrem Tier zu vertrauen.
Ich hatte Zeit für einen kurzen Blick, während sie auf mich zurannte. Ihre Augen waren rot und aufgequollen, als hätte sie geweint. Sie hatte zwei frische Schnitte auf den eingefallenen Wangen. Sie warf sich in meine Arme, als wäre die gesamte Welt um sie herum zusammengebrochen und als könnte nur ich sie retten.
Ich hielt sie fest.
Ganz gleich, was in der Welt meiner Schwester geschehen war, sie war hier, und ich war hier, und wir umarmten uns, als hätten wir uns nicht fünf, sondern hundert Jahre lang nicht gesehen. Sie schluchzte an meiner Brust, und ich strich ihr übers Haar, atmete ihren Schweißgeruch ein, klopfte ihr auf den Rücken und ließ sie nicht los.
Meine große Schwester weinte in meinen Armen.
Das hatte sie noch nie zuvor getan.
Chelo löste einen Arm von mir und öffnete ihn, worauf sich Liam in unseren Kreis aufnehmen ließ. Seine Augen waren warm, aber darin war auch eine Dunkelheit, die jedoch nichts mit mir zu tun hatte, wie mir schien. Dann griff Kayleen nach mir und legte sich körperlich und mit ihrer Datengestalt um mich.
Lange Zeit sagte keiner von uns ein Wort, nicht einmal Kayleen und ich kommunizierten in der Stille der Datenwelt. Worte hätten diesen magischen Moment vielleicht zerstört. Das Wunder, dass wir vier wieder zusammen waren, fühlte sich zerbrechlich an. Wie ein Traum.
»Wo sind die anderen?«, fragte Chelo schließlich. »Alicia und Bryan?«
»Hier. Im Raumschiff. Kommt mit, und erzählt uns, was geschehen ist.«
Sie nickte, drehte sich jedoch zu den zwei anderen Personen um, die auf schnaufenden Gebras herangeritten waren. Sie hatten sich zurückgehalten und uns neugierig beobachtet. Erst als auch sie abstiegen, hob ich lange genug den Kopf, um sie mir ansehen zu können: eine alte Frau und eine jüngere. Ein leichtes Humpeln verriet die ältere.
Paloma!
Aber sie sah zwanzig Jahre älter aus und nicht fünf. Ihr Gesicht war gebräunt und wettergegerbt, doch hatte sie tiefe Runzeln in den Augenwinkeln, und ihr Haar war mehr grau als blond. Ich löste mich von den anderen und umarmte sie. Sie war so winzig! Sie drängte mich weit genug zurück, um mich ansehen zu können, und ich verbeugte mich leicht. »Es freut mich, dich wiederzusehen, meine Herzensmutter.« Sie war tatsächlich fast wie eine Mutter für mich gewesen, während Chelo und ich bei Nava gelebt hatten.
Paloma grinste, und sie wirkte auf einmal wieder einige Jahre jünger. »Auch mich freut es, dich zu sehen.« Sie wandte sich der jungen Frau zu, die sie begleitete, ein schlankes Mädchen, vielleicht siebzehn Jahre alt, mit großen Augen und einer auffälligen weißen Strähne im Haar. »Das ist Sasha.« Sie nickte dem Mädchen zu, doch Sasha stand wie angewurzelt da, während ihr Blick zwischen mir und der Schöpferin hin und her ging. »Und das ist Joseph«, setzte Paloma die Vorstellung fort, »Chelos Bruder.«
Ich streckte ihr meine Hand hin.
Eine wilde Kakophonie aus schreienden Daten bestürmte mich und ließ mich in die Knie gehen. Kayleen verdrehte die Augen und stieß einen schrillen Schrei aus. Dann stürzte sie neben mir zu Boden.
Ich schirmte mich ab und brachte den grausamen Lärm in meinem Kopf zum Schweigen. Dann packte ich Kayleen und zog sie an mich. Ich
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