Das silberne Schiff - [Roman]
etwas von meinem heißen Getränk auf den Tisch.
Ich wischte es auf, konzentrierte mich wieder und sah Marcus an. »Einige Leute waren fair zu uns, einige von unseren Freunden, aber den meisten haben wir Angst gemacht. Manche haben uns wegen des Krieges gehasst, weil damals Angehörige von ihnen starben. Aber das war nicht unsere Schuld. Wir waren damals noch Babys.«
Wut blitzte in seinen Augen auf. Er unterdrückte sie und setzte wieder seine kühle Miene auf. Es war ihm demnach zumindest nicht gleichgültig. Er nahm einen tiefen Atemzug. »Erzähl mir mehr über die Kolonie.«
»Sie ist klein, nur ein paar tausend Menschen. Es gibt nur eine Stadt, Artistos. Dort leben die meisten Menschen. Es gibt zwei Vagabundensippen, die kommen und gehen. Eigentlich sind sie Wissenschaftler. Beide Sippen haben etwas über hundert Mitglieder. In einer lebte Alicia und wurde gehasst, in der anderen lebte Liam und wurde geliebt.«
Marcus stellte immer neue Fragen, nach den Sippen und dem täglichen Leben der Menschen, nach Kleinigkeiten, woher wir unser Trinkwasser bezogen – aus dem Fluss – und woraus unsere Häuser gebaut waren – aus Holz und Metall – und was für Kleidung wir trugen – aus Hanffasern, Djuri- und Ziegenfell und Ziegenwolle.
»Wo war Jenna?«, wollte er wissen.
»Jahrelang haben die Leute versucht, sie zu töten, aber sie waren nicht stark oder schnell genug, selbst wenn sie in der Überzahl waren. Sie lebte außerhalb der Stadt und konnte schließlich einen Waffenstillstand erwirken, indem sie Tatzenkatzen und Dämonenhunde und Gelbschlangen tötete, die durch die Grenzanlagen kamen. Sie deponierte die Kadaver im Stadtpark. Sie war zu stark und zu klug, um sich von ihnen töten zu lassen, und sie machte den Leuten klar, dass sie sie brauchen.« Ich erinnerte mich, wie sie bei den wenigen Gelegenheiten ausgesehen hatte, als sie in die Stadt gekommen war. Ihr Haar war ein langer Zopf, nachdem sie es immer wieder mit einer Hand zurückgeworfen hatte, sie war in Tatzenkatzenfell gekleidet, sie war wild, verstümmelt – und frei. »Und all das mit nur einem Arm und nur einem Auge. Als ich noch sehr klein war – etwa sieben oder acht –, wollte ich unbedingt mit ihr in der Wildnis leben. Dieses Gefühl war größer als mein Wunsch, das Schiff zu fliegen.«
Er zog eine Augenbraue hoch und hätte fast gelacht, und selbst seine Augen funkelten amüsiert. »Also hat Jenna gelernt, innovativ zu sein. Das könnte gut für sie sein – früher hat sie sich an Regeln und Traditionen geklammert, als würde ihr Leben davon abhängen.«
»So ist sie nicht mehr. Die Leute sollten sich vor ihr in Acht nehmen.«
Marcus lachte nur. »Was glaubst du, warum Jenna in der Nähe der Stadt geblieben ist?«
»Um uns zu helfen. Sie hat uns viel beigebracht, hauptsächlich, indem sie uns bestimmte Erfahrungen machen ließ. Sie hat einen Gleiter und verschiedene andere Technik gerettet, und irgendwann gab sie mir ein altes Stirnband meines Vaters mit Datenfäden und genügend Hinweise, damit ich selber herausfinden konnte, wie man es benutzt. All diese Technik hat sie für uns aufbewahrt.«
Er schürzte die Lippen, und nun ging es in seinen Fragen um allgemeinere Aspekte von Fremont und Artistos. Nach etwa einer Stunde schlug er eine kurze Pause vor, und wir räumten den Frühstückstisch ab. Dann führte er mich zu einer Bank im Garten.
Ein handtellergroßer Schmetterling mit Regenbogenmuster auf den Flügeln flatterte herbei und landete auf meinem Unterarm. Marcus betrachtete ihn nachdenklich. »Das ist eine meiner ersten Schöpfungen, die sich fortpflanzen konnte. Ich nenne sie Leichtlinge. Ich war etwa in deinem Alter, als ich sie entworfen habe.« Der Schmetterling flog auf und verharrte für einen Moment in der Luft. Gemeinsam beobachteten wir, wie er zu einem Busch flatterte, der doppelt so hoch wie ich war, und zwischen den blauen und grünen Blüten verschwand.
Marcus lehnte sich zurück und schlug ein langes Bein über das andere. »Jetzt erzähl mir von deiner Verbindung zu Daten. Wie hast du das erste Mal erfahren, dass du sie anders empfindest als die anderen Leute?«
Chelo hatte mir die Geschichte schon so oft erzählt, dass ich gar nicht mehr wusste, ob ich mich selber an die Ereignisse oder nur an ihre Version erinnerte. »Ich war noch jung, vielleicht fünf, und Chelo war sieben. Wir waren im Stadtpark, der mitten in Artistos liegt, und spielten Fangen. Ich weiß noch, wie mir plötzlich bewusst
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