Das silberne Zeichen (German Edition)
dort zu zeigen. Rasch ging sie zurück in ihr Kontor, schloss die Tür und öffnete endlich den Brief. Der Schöffe van Eupen teilte ihr darin mit, dass der Verdacht gegen sie entkräftet sei, da man in einem Kellerraum van Hullsens noch ein weiteres der gefälschten Abzeichen gefunden hatte.
Seufzend legte sie das Schriftstück beiseite. Sie hätte froh sein müssen, dass ihr guter Leumund wiederhergestellt war. Doch etwas an den Umständen gefiel ihr nicht. Solange sie auch darüber nachdachte, sie konnte die Schwachstelle in der Geschichte einfach nicht finden.
***
Auch als sie am späten Abend unter ihrer warmen Decke lag, dachte sie weiter darüber nach. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass jemand Meister van Hullsen zum Sündenbock machen wollte. Jemand aus dem Marienstift? Ein Mittäter oder Mitwisser? Sehr gut hatte sie den Silberschmied zwar nicht gekannt, aber sie konnte sich nach wie vor nicht vorstellen, dass er einen solchen Betrug nötig hatte. Er war ein angesehener Aachener Bürger gewesen, seine Werkstatt zählte zu den besten weit und breit. Sein Vater saß im Stadtrat. Er hatte schlicht und ergreifend keinen Grund gehabt, billige Fälschungen herzustellen. Irgendjemand wollte dies jedoch die gesamte Stadt glauben machen. Marysa nahm sich vor, noch einmal mit Rochus van Oenne darüber zu sprechen, wenngleich sie wusste, dass es vermutlich zu nichts führen würde. Für Stift und Schöffen war die Angelegenheit mit dem Fund des dritten Abzeichens in van Hullsens Haus geklärt.
Unruhig drehte Marysa sich auf die Seite und schloss die Augen, riss sie sogleich wieder auf, als der entsetzte Schrei eines Mädchens durchs Haus schallte. Sie fuhr hoch, griff im Dunkeln nach ihrem Hausmantel und warf ihn sich über. Schon ertönten aufgeregte Stimmen vor ihrer Kammer. Ohne darauf zu achten, dass ihr Haar nur geflochten, aber nicht bedeckt war, eilte sie hinaus. «Was geht hier vor?», fragte sie und drängte sich an Balbina und Jaromir vorbei in die Gesindekammer. Dort saß Geruscha heulend auf ihrem Bett, vor ihr kauerte Imela und redete beruhigend auf sie ein. Als sie Marysa bemerkte, erhob sie sich.
«Herrin!»
«Was ist hier los?», wiederholte Marysa ihre Frage und blickte auf das weinende Mädchen.
Imela legte Geruscha eine Hand auf die Schulter. «Verzeiht, Herrin, dass wir Euch geweckt haben.»
«Wer hat eben so geschrien?»
«Ich, Herrin», antwortete Imela verlegen. «Es tut mir leid. Ich dachte … Ich bin vorhin von einem Geräusch aufgewacht und habe einen Schatten gesehen, der durch die Kammer gehuscht ist. Da habe ich mich furchtbar erschreckt. Aber es war nur Geruscha. Sie hat …»
«Verzeiht mir, Herrin», schluchzte Geruscha. «Ich wollte das nicht.»
«Was wolltest du nicht?»
Geruscha schniefte in ihren Ärmel. «Im Schlaf herumlaufen. Das hab ich schon seit Monaten nicht mehr gemacht.»
«Sie hat geschlafen», mischte Imela sich wieder ein. «Aber sie ist trotzdem in der Kammer herumgetappt. Als ich geschrien habe, ist sie aufgewacht und wusste erst gar nicht, wo sie ist.»
«Du wandelst im Schlaf?» Neugierig und besorgt zugleich betrachtete Marysa ihre neue Magd.
«Ja. Nein. Ich dachte, es hätte aufgehört.»
«Wie kann man denn zugleich schlafen und herumlaufen?», wollte Jaromir wissen. «So was hab ich noch nie gehört.»
«Vielleicht ist sie verhext», vermutete die Köchin und bekreuzigte sich.
Marysa stieß einen unwilligen Laut aus. «Also wirklich, Balbina. Solche Reden will ich in diesem Haus nicht hören!»
«Oder besessen», fuhr Balbina unbeirrt fort. «Ihr müsst Vater Ignatius holen.»
«Das ist Unsinn», fuhr Marysa sie an. «Manche Menschen wandeln nun mal im Schlaf. Niemand weiß, warum sie das tun. Ich selbst bin als kleines Kind auch oft schlafend durchs Haus gelaufen, sagt meine Mutter. Und ich bin wohl ganz sicher nicht besessen.»
«Äh, nein, Herrin.» Erschrocken blickte Balbina sie an. «Verzeiht, das habe ich nicht gemeint. Ich dachte nur …»
«Ich finde, wir sollten alle wieder zu Bett gehen», sagte Marysa streng. Sie warf Geruscha noch einen Blick zu. «Ist alles in Ordnung mit dir?»
Das Mädchen nickte zaghaft. «Ich glaube schon. Vielleicht ist es, weil ich neu im Haus bin. Es ist alles so anders hier.» Unsicher blickte sie von Marysa zu Balbina und Jaromir.
«Was ist denn hier los?», kam nun auch noch Milos Stimme aus der Kammer, die er sich mit Jaromir teilte.
Marysa runzelte ungehalten die Stirn, woraufhin Jaromir
Weitere Kostenlose Bücher