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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Korn
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Brötchentüte. Er war schon früh losgegangen und hatte Brötchen gekauft. Helle, die er ablehnte, weil sie kaum Ballaststoffe hatten. Trudi liebte sie. Sollte sie sehen, daß er über seinen Schatten springen konnte.
    »Komm frühstücken.« Georg sagte es leise, als fürchte er, mehr Stimmgewalt könnte ihm noch mal den Magen umdrehen. Er hatte sich die halbe Nacht übergeben. Gekotzt. Trudi sagte kotzen. Seine Mutter hätte übergeben gesagt. Wenn überhaupt.
    Trudi hatte ihn gehört. Sie kam in die Küche und setzte sich an den Tisch. Nahm ein Brötchen aus der Tüte und schnitt es in zwei Hälften. Butter. Marmelade. Erdbeer mit Rhabarber. Von ihm gekocht. Mit einem ganz geringen Zuckeranteil.
    Er war zufrieden, daß sie aß. Hörte ihrem Kauen zu, während er seinen Haferschleim löffelte. Er wagte nicht, ihr ins Gesicht zu gucken. Der Schleim tat ihm gut. Es ging ihm ohnehin besser, seit ihm eingefallen war, daß der Citroën in der Werkstatt stand. Jos hatte ihm gesagt, er habe kein Geld, ihn auszulösen.
    »Ich geh schon«, sagte Trudi. Er hatte die Türklingel gar nicht wahrgenommen. Doch jetzt, wo er darüber nachdachte, glaubte er, sie in seinem Gedächtnis zu finden. Trudi hatte schon die Tür geöffnet. Georg stand auf und tupfte sich den Mund mit seinem Taschentuch ab. Unerwartetes Klingeln versetzte ihn in eine nervöse Spannung. Er schätzte es gar nicht, wenn jemand ohne Ankündigung erschien.
    Der Briefträger. Er hielt Trudi einen Zettel zur Unterschrift hin. Ein Einschreiben. Georg spürte, wie der Magen sich wieder wehrte. Doch ihm fiel keine Rechnung ein, die er nicht bezahlt hätte.
    Trudi kehrte ihm den Rücken zu und riß den Brief auf. Zog etwas heraus und schien es in ihre Bluse zu stopfen.
    Dann drehte sie sich um und sah Georg in der Küchentür. »Ein Brief von meinen Eltern«, sagte sie, »ich lese ihn gleich vor.« Geld also. Er wußte längst, daß die Lafleurs Geld an Trudi schickten. Diesmal mußte es wohl eine größere Summe sein. »Komm«, sagte Georg, »setz dich.«
    Die geknüllten Francscheine lugten aus Trudis Blusenausschnitt hervor. Nichts machte sie richtig. Bei allem schlampte sie. Georg nahm noch einen Löffel vom kaltgewordenen Haferschleim. Schob dann den Teller weg. Er würde ihr sagen, daß er von dem Geld wußte. Sie konnte alles behalten. Er wollte nichts davon. Lieber verkaufte er seine Uhr, um ihr täglich Brot zu bezahlen. Sollte Trudi wissen, daß er seinen Stolz bewahrte. Georg hob den Kopf und wandte sich Trudi zu und sah zum erstenmal an diesem Tag in ihr Gesicht. Er fand es kaum wieder unter der Schminke.
    Cilly Weil hatte ihr den Strich gezeigt. Im inneren Augenwinkel ansetzen. Den Pinsel zum äußeren Winkel des Auges ziehen. Dann den Eyeliner trocknen lassen und die Wimpern tuschen.
    Das Gift der Tollkirsche tat das übrige. Cilly Weil hatte das Fläschchen Belladonna aus einer ihrer vielen Schubladen gekramt und Trudi je einen Tropfen in die Augen gegeben. Trudis Pupillen hatten sich geweitet. Tiefe dunkle Teiche im verwaschenen Blau der Iris. Trudi hatte in den Handspiegel gesehen und sich kaum erkannt, und ihre rougebedeckten Backen waren warm geworden und noch röter, so verzückt war sie.
    Sie hatte die Schätze nach Hause tragen dürfen. In einer Tüte, die Cilly Weil aus einer anderen Schublade zog. Den Eyeliner. Die Tusche. Den Puder. Das Rouge. Den Lippenstift. Das Fläschchen war bei der Weil geblieben. Sie wollte es aufbewahren. Für die großen Anlässe, die sie Trudi versprach.
    Trudi hatte die Tüte in ihrem Schrank versteckt, noch ehe sie an die Klotür klopfte und Georg ansprach, der über dem Becken hing und kotzte. Er hatte ihr an diesem Abend nicht mehr ins Gesicht gesehen. Auch kein Wort gesagt. Nur gegurgelt und den Mund gespült, um dann im dunklen Schlafzimmer ins Bett zu gehen.
    Der Strich war ganz verwischt gewesen, und die Pupillen wieder klein, als Trudi morgens in den Spiegel schaute. Da erst hatte sie die Seife genommen und ihr Gesicht gewaschen und den Teil der Schminke entfernt, der noch nicht an ihrem Kopfkissen klebte. Das Gesicht kam ihr nackt vor und häßlich und grau, und so hatte sie ihre Tüte aus dem Schrank geholt und die Schätze ausgepackt und gehofft, daß Georg sich schnell abfinden möge.
    »Sie sieht aus wie eine Hure«, sagte Georg, »sie singt wie eine Hure. Vielleicht ist sie sogar eine.«
    »Du hast eine völlig überholte Vorstellung von Huren.«
    »Dann sag mir doch, wo sie gestern abend gewesen

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