Das singende Kind
könnten Dir mehr geben, Kind.
Trudi erinnerte sich, die Taschenuhr einmal vom Nachttisch des Vaters genommen und in das Kinderzimmer verschleppt zu haben. Die Eltern waren hereingekommen, gerade, als es ihr gelungen war, den Knopf zu drücken und sich den Schlag der letzten Viertelstunde wiederholen zu lassen. Trudi hatte oft gedacht, daß einer von ihnen vor der Zimmertür auf Beobachtung stand, und erst viel später erfahren, daß sie es tatsächlich lange Zeit getan hatten. Wache schieben.
Deine Mutter und ich, schrieb Trudis Vater. Trudi kannte die Handschrift ihrer Mutter nur von den Zetteln, die sie ihrem Mann zurückließ und die in Trudis Kindheit in jedem Zimmer des Hauses gelegen hatten. Liebeserklärungen. Hastig geschrieben. Auf leere Kuverts. Auf die Rückseiten von Rechnungen.
Hatten die Hoffnung auf Dich schon aufgegeben, schrieb Trudis Vater. Die Jahre nach Julies Tod schienen uns endlos weit zu entfernen von dem Wunder. Dann kündigtest Du Dich an und wurdest geboren und wuchsest heran, und keiner hat Dich uns nehmen können.
Geliebtes Kind, schrieb Hans Lafleur, gib immer auf Dich acht, und nimm Dir auch vom Glück, ein Kind zu haben.
Trudi schob den Brief in den Schrank unter die Hemden und hatte das Gefühl, ihrem Vater Tränen schuldig zu sein, und sie begann zu schluchzen. Die Tränen zogen sich durch die zu dunkle Schminke, die in Cilly Weils kärglich illuminiertem Keller so geheimnisvoll ausgesehen hatte, und Trudi ließ sie laufen und die Schicht in ihrem Gesicht auflösen. Ein gutes Kind sein. Mit blanker Haut und blanken Augen. Trudi hätte den Eltern gern alle Träume erfüllt.
Sie schloß die Schlafzimmertür und schluchzte lauter. Die Liebe der Eltern. Sie war von ihr davongetragen worden und hatte nicht den Boden zu berühren brauchen. Doch jetzt lag eine Last auf ihr, die sie unten hielt. Trudi legte sich bäuchlings auf das Bett und hörte die Fünfhundertfrancscheine knistern, die noch immer zwischen Brust und Bluse klebten. Die Taschenuhr ihres Großvaters. Sie zog die vier Scheine hervor und faltete sie ordentlich zusammen. Etwas Gutes damit tun. Etwas, das all den Träumen näher kam.
Trudi stand auf und tat das Geld in den Schrank. Ging in das Badezimmer und wusch sich. Ihre Bewegungen waren langsam und ihr sehr bewußt, und sie glaubte, daß sie schon zu einem neuen Leben gehörten. Trudi trocknete das Gesicht und gab nur wenig Puder darauf und wenig Rouge. Sie kämmte die Haare und fühlte sich sauber. Sie würde jetzt gehen und Noten kaufen und Babywäsche.
»Sie sehen so blaß aus, Kind«, sagte Cilly Weil.
Trudi sah in den Spiegel mit dem barocken Rahmen, der zwischen der Kellertür und den Heizungsrohren hing. In dem schwachen Licht, das durch die roten Seidenschirmchen der Lampen schimmerte, hatte ihre Haut die Ausstrahlung eines grauen Lappens.
»Haben Sie die Tiegelchen nicht mehr?« Cilly Weil lachte. »Ich rate«, sagte sie, »Ihr Mann hat es verboten. Die Ehemänner fürchten immer, daß ihre Frauen zu verführerisch aussehen.«
»Das ist es nicht«, sagte Trudi. Sie lehnte die beiden Tüten an die goldbelegte Kommode und kniff sich in die Wangen, um Farbe zu bekommen. Ihre Hände fühlten sich heiß an. »Haben Sie Noten gekauft? Da liegen sie in Haufen.« Cilly Weil hob ihre alte Kinderhand und wies auf das Klavier, das unter dem vergitterten Fenster stand und vom Tageslicht abbekam.
»Ein paar Sachen, die ich singen will.« Trudi klang verlegen. Sie ahnte, daß die Lieblingslieder ihres Vaters nicht nach dem Geschmack der Cilly Weil waren.
»Und in der anderen Tüte?« Cilly Weil stieß mit der Spitze des Schuhs daran. »Kaufen Sie Ihre Bühnenkleidung in der Baby-Etage, oder kriegen Sie ein Kind?«
»Nein«, sagte Trudi, »noch nicht.« Sie griff nach der Tüte und holte eine Erstlingsausstattung heraus. »Glauben Sie, daß ich bald schon Bühnenkleidung anschaffen sollte?«
»Nicht, wenn Sie schwanger sind«, sagte die Weil und wandte sich ab. »Mir brauchen Sie das nicht zu zeigen. Ich habe mehr Abtreibungen gehabt, als der Mensch zählen kann. Ich mag keine Kinder.«
»Ich bin nicht schwanger«, sagte Trudi.
»Dann konzentrieren Sie sich auf die Kunst.«
»Ich habe schon zweiunddreißig Jahre aufgebraucht«, sagte Trudi, »und es ist noch nichts aus mir geworden.«
»Aber Sie sind doch erst am Anfang, Kind.« Cilly Weil ging zum Klavier und setzte sich auf den alten Küchenhocker, der da stand. »Zweiunddreißig ist gar nichts für eine
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