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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Korn
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die um den Kopf lag. »Wie eine Nonne.« Die Weil lachte. »Einer der Herren nannte mich die Nonne. Weiß der Teufel, warum.« Sie ließ von den Haaren ab, zog eine Schublade aus der Kommode und holte eine Schachtel heraus, die aussah, als habe sie vor hundert Jahren Konfekt enthalten. »Die dezente Schminke, man darf bei dieser Arbeit auf keinen Fall heruntergekommen aussehen. Aber auch nicht zu auffällig.«
    »Sie meinen bei den Auftritten«, sagte Trudi und kam hinter dem Klavier hervor, um an der Lektion teilzunehmen.
    »Die Auftritte.« Cilly Weil pustete Puder aus der Quaste und fuhr sich dann damit durch das Gesicht. »Das Alter kommt schubweise«, sagte sie, »Und auf einmal schiebt es sich so schnell über einen, daß schon der nächste Blick in den Spiegel ein Unglück ist.« Sie drehte sich zu Trudi um. »Sechsundsiebzig. Das ist alt genug. Ihrer Mutter ist der Puder sicher schon längst in den Furchen hängengeblieben. Sie sollten die Trauer nicht übertreiben.«
    Trudi löste sich von Cilly Weils Spiegelbild und griff nach der Tüte, die sie neben die Tür gestellt hatte. »Vielleicht sollte ich doch gehen.«
    »Seien Sie nicht so zimperlich«, sagte Cilly Weil. »Das ist ein sehr guter Tag, um Sie anzulernen. Im Falle des Falles können Sie sich auf Ihren Schock herausreden. Die Eltern haben sich totgefahren. Wer will Sie da verurteilen.«
    »Wollen Sie mich auf den Strich schicken?« fragte Trudi und war überrascht, daß sie nicht aus der Tür rannte.
    »Aber nein, Kind.« Cilly Weil lachte. »Sie können lernen, den Leuten in die Taschen zu greifen. Auch das ist eine Kunst.«
    Georg hatte die entscheidenden Papiere auf den Eichentisch gelegt. Doch Trudi schenkte ihnen keinen Blick. Sie glaubte ihm jedes Wort. Auch ohne die Belege zu lesen. Ihr schien es nicht schockierend, daß ihre Eltern Spieler gewesen waren.
    Die Erkenntnis, in noch größere Abhängigkeit von Georg geraten zu sein, setzte erst ein, als er seufzend die Papiere in den Ordner tat. Trudi haßte Georgs Geseufze. Begleitgesang ihres Versagens. Sie konnte ihm nun noch weniger entkommen. Kein Geld für die Weil. Kaum Geld für Wurst.
    »Ich bringe dich schon durch«, sagte Georg, und erst dieser Satz brachte Trudi aus der Fassung. Ihre Tränen beruhigten Georg beinah. Es hatte ihn eher geärgert als erleichtert, Trudi nicht erschüttert zu sehen, und war ihm nur ein weiteres Indiz für ihre Traumduselei, die seine Kraft kostete.
    Trudi dachte an die Weil, deren kleine alte Hände so geschickt Beute machten, während sie sich weggeschlichen hatte. Ihr ganzes Verlangen war gewesen, nicht zugehörig auszusehen. Eine harmlose Pfeiferin, die zu der Decke eines Kaufhauses hochsieht. Und Cilly Weil griff in die Taschen.
    Vielleicht war das nur eine Variante des Glücksspiels, das die Eltern gespielt hatten, und kaum schockierender. Vielleicht war es ihre einzige Chance, die Stunden bei der Weil zu finanzieren. Trudi dachte, daß ihre Eltern sie verstehen würden.

Trudi atmete auf, als der letzte Tag ihres Zyklus zu Ende ging, ohne daß sie das leiseste Ziehen im Kreuz spürte. Sie zog sich aus und hängte die Hose in den Schrank und legte das Sweatshirt zusammen. Ließ die abendliche Waschung diesmal nicht ausfallen, sondern ging im Slip in das Badezimmer, um dem Körper die beste Pflege angedeihen zu lassen. Hüterin eines Schatzes.
    Sie schlüpfte in Georgs weißen Bademantel und ging zu ihm in das Arbeitszimmer. Setzte sich auf das Ledersofa und sah ihn an. Sie fand es auf einmal heimelig hier. Das Licht der Leuchtstofflampe. Der schwere Tisch aus schwarzem Holz. Georg, der dahinter saß. In einem alten Norwegerpullover, der ihn vor der Nachtluft schützte, die durch das geschlossene Fenster kam.
    »Kommst du gut voran?« fragte Trudi.
    »Nein«, sagte Georg, und es klang schroffer, als er beabsichtigt hatte. Er wollte Trudi nicht vertreiben.
    »Was ist es?«
    »Die Kinder«, sagte Georg, »viel zu viele Stimmen. Ich kann die einzelnen Klagen gar nicht mehr heraushören.«
    »Eine Seele hat uns schon gefunden«, sagte Trudi.
    Georg sah sie überrascht an. »Entschuldige, ich weiß schon nicht mehr, was ich rede. Es ist das Kinderbuch, an dem ich arbeite. Ich werde dir später davon erzählen.«
    Trudi nickte und war froh, den Moment verpaßt zu haben, Georg in das Geheimnis einzuweihen. Sie wollte wenigstens ein paar Tage drüber sein, bevor sie es ihm anvertraute, und erst in zwei Wochen einen Schwangerschaftstest wagen. Sie waren zu oft

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