Das singende Kind
ineinandergeschlungenen Hände zu lösen, um den Gurt zu öffnen.
Die Maschine setzte zur Zwischenlandung an, und Georg sah auf ein sonnendunstiges Stuttgart und hatte große Sehnsucht danach, der einzige zu sein, der Trudi Trost geben könnte.
Erst zwei Stunden später, als er in Nizza angekommen war, gelang es Georg, die Eifersucht zur Seite zu drängen, um sich nur noch der einen Angst zu stellen, gleich die Leichen der Lafleurs zu sehen.
»Lieber Gott, laß es nicht wahr sein«, sagte Trudi. Sie sagte es seit Stunden vor sich hin. Laut. Trudi glaubte an die Wirksamkeit von Gebeten, wenn sie laut gesprochen wurden.
Sie strich um das Telefon und wartete darauf, daß Georg anrief, um zu sagen, es sei eine schreckliche Verwechslung. Das alte Paar, das ums Leben gekommen war, ein anderes, und die Lafleurs nur auf einem ihrer längeren Ausflüge. Nach Digne vielleicht.
Jos hatte sich die Flasche Pastis geschnappt, die er in Georgs Gewürzregal gefunden hatte. Ein Drittel war noch drin. Er füllte zwei Gläser und trug sie ins Arbeitszimmer, wo Trudi inzwischen auf dem Mooreichentisch saß und zum Telefon hinüberstarrte. Er hielt ihr ein Glas hin. Doch Trudi schüttelte den Kopf und ließ nicht davon ab, ihre Beschwörung zu sprechen.
Gegen sieben Uhr rief Georg dann an. Sagte, daß er eine Stunde auf die Concierge gewartet habe, um in die Wohnung zu kommen. Daß der Himmel unerwartet grau sei über Nizza. Daß die Lafleurs friedlich schlafend ausgesehen hätten und der Bestatter bestellt sei. Er sagte nicht, daß er nur noch die nötigsten Möbel in der Wohnung vorgefunden hatte. Er würde es Trudi später erzählen und auf ewig verschweigen, wie die Toten wirklich aussahen.
Er versuchte, die Eifersucht zu unterdrücken, die ihn wieder im Griff hatte, seit er aus der Pathologie des Krankenhauses gekommen war. Er bat Trudi, Jos an den Apparat zu holen, doch als Jos den Pastis erwähnte, kriegte Georg kaum noch die Kurve zum nächsten Satz. Das Bild, das sich nun vor ihm auftat, war zu quälend.
Er ließ die Telefonkarte liegen, die er eben für hundert Franc gekauft hatte, und es fiel ihm erst auf, als er schon vor Giaumes Bar stand. Er ging zurück und blickte durch das Glas der Telefonzelle, in der ein anderer telefonierte. Die Karte lag nicht mehr da, und Georg gab auf, ohne den Mann danach zu fragen. Er entschied, dafür auf ein Abendessen zu verzichten, und kehrte auf ein Glas bei Giaume ein. Er dachte an Pastis und nahm einen Crème de Menthe, der auch mit Wasser gestreckt wurde. Er glaubte, in dem alten Mann hinter der Bar Giaume zu erkennen. Doch er sprach ihn nicht an und verriet nicht seine Nähe zu den Lafleurs.
Jos tröpfelte dreißig Baldriantropfen auf einen Löffel und ließ Trudi sie schlucken. Er brachte Trudi ins Bett und setzte sich in den Sessel neben ihrem Schrank. Trudi schlief bald ein. Sie hatte in der letzten Nacht nicht eine Sekunde geschlafen. Jos blieb bis kurz vor Mitternacht wach und verbrachte die Nacht im Sessel.
Georg legte sich auf das Ehebett der Lafleurs und stand wieder auf und holte den Wein, den er in der Küche gesehen hatte, und den Rest eines harten Käses. Er schaltete die Lampe auf dem Nachttisch an und untersuchte den Inhalt der Schublade. Er nahm ein kleines Holzkästchen heraus und fand hellblonde Kinderzöpfe darin.
Das neue Bild vor seinen Augen waren Trudis blonde Locken. Er sah Jos, der sich über die liegende Trudi beugte und in ihr Haar faßte und mit großer Zärtlichkeit einen dicken Zopf flocht.
Georg flog am Abend des Montags zurück. Ein Flug, den er bei der Buchung festgelegt hatte und der ihn beinah zu Tode hetzte, so knapp bemessen war die Zeit für die vielen Vorhaben. Doch es war ihm schon zu Hause klar gewesen, daß er nicht einen Tag länger wagen würde, Trudi und Jos allein zu lassen.
Er hatte neben dem Koffer jetzt noch eine große Ledertasche der Lafleurs im Gepäck. Ein Ordner mit Papieren war darin. Das Familienstammbuch. Fotoalben. Das Holzkästchen mit den Zöpfen. Eine Schmuckkassette, in der ein Stück Koralle lag, eine Straßkette und eine Erkennungsmarke aus dem Zweiten Weltkrieg. Georg hatte die Tasche so gepackt, wie es Leute tun, die in einen Luftschutzkeller gehen.
Trudi ahnte nichts von seinem Kommen. Er hatte ihr den Termin verschwiegen in den Telefongesprächen. Jedesmal war Jos in der Wohnung gewesen. Auch morgens um acht. Er hielt das Versprechen, Trudi nicht aus den Augen zu lassen. Georg ertrug es kaum.
In letzter
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