Das singende Kind
Minute hatte er noch die Trauringe in das Büro des Bestatters gebracht, die ihm im Krankenhaus in die Hand gedrückt worden waren und die er erst wiederfand, als er in der Brusttasche seines Jacketts nach dem Flugticket tastete. Er war nicht sehr sicher, ob sie noch mal an die Finger der Lafleurs gelangen würden. Doch er wollte es getan haben.
Es ging auf Mitternacht zu, als er mit Koffer und Tasche in seine Straße bog. Er sah sich nach dem Auto von Jos um und war beruhigt, es nirgends zu sehen, obwohl es noch einige Parkplätze gab. Er wollte mit Trudi allein sein. Alles konnte gut werden zwischen ihnen, wenn sie alleine wären. Im Flugzeug hatte er auf einmal eine große Erleichterung gefühlt, und sie hatte mit dem Tod der Lafleurs zu tun, so traurig der ihn machte. Doch vielleicht war seine schreckliche Anspannung in all diesen Wochen nur die Vorahnung von einem dunklen Ereignis gewesen, die sich nun mit ihrem Sterben erfüllt hatte. Georg hoffte auf die Wiederkehr der Leichtigkeit.
Trudi kam im Nachthemd über den Flur. Im ersten Augenblick dachte Georg, sie habe schon geschlafen. Doch Trudi trug Nachthemden nur vor dem Schlafengehen und dann in der Hoffnung, daß die Stimmung zärtlich genug werden würde, um sich bald wieder auszuziehen.
Durch das geriffelte Glas der Schlafzimmertür fiel ein Lichtfleck. »Läuft Jos dahinten mit einer Taschenlampe herum?« Georg horchte der Gereiztheit des Tons hinterher, und es tat ihm leid, das gesagt zu haben. Im Treppenhaus hatte er sich eine geglückte Ankunft vorgestellt. Gleich das richtige Wort finden. Die richtige Geste. Eine trauernde Trudi in die Arme nehmen.
»Jos ist gerade gegangen«, sagte Trudi. Sie sah auf die Ledertasche, die Georg noch immer in der Hand hielt. »Du hättest ihm eigentlich begegnen müssen.«
»Und du hast ein Nachthemd an?«
»Stell die Tasche weg. Ich will nicht sehen, was drin ist.«
Georg nickte und ging in das dunkle Arbeitszimmer, das nur vom Flurlicht ein wenig beleuchtet wurde. Doch er konnte erkennen, daß die Schnur mit den Fotos schlaff auf dem Boden lag. Heruntergerissen. Das war ihm noch einigermaßen gleichgültig im Verhältnis zu Trudis Hemd. Er mußte sich zusammennehmen. Es war nicht die Nacht für eine Eifersuchtsszene.
»Ich habe schon auf dich gewartet«, sagte Trudi.
Georg ließ die Tasche fallen. Sie fiel genau auf das Begräbnisbild der Fliege. »Versuch nicht, das Nachthemd damit zu erklären«, sagte er, »du hattest keine Ahnung, daß ich heute komme.«
»Ich hatte eine Ahnung.« Trudi stand auf der Türschwelle und zerrte am Ausschnitt des Nachthemds, bis die eine Schulter freigelegt war. »Komm ins Schlafzimmer. Es ist alles vorbereitet.«
»Dir scheint es besser zu gehen.«
Trudi streckte ihre Hand aus. »Ich darf nur den Zeitpunkt nicht verpassen«, sagte sie.
Georg hielt ihr die Hand hin und kam aus dem Zimmer. Der Tod der Lafleurs hatte Trudis Verstand aushaken lassen. Anders konnte er sich nicht erklären, warum sie ausgerechnet jetzt auf das Bett zuschlichen, als sei das ihre Hochzeitsnacht.
Trudi stieß die Tür auf, und Georg sah die Kerze, die auf dem Nachttisch brannte. Ein Foto der Lafleurs stand daneben. In einem schwarzen Rahmen, den Georg nicht kannte. Vor dem Nachttisch lauter einzelne Rosen. In einer Pastisflasche. In Einmachgläsern.
»Zieh dich aus«, sagte Trudi und zog schon das Nachthemd über den Kopf. Legte sich auf das Bett und sah aus wie eine Opfergabe.
Georg zog sich aus und hatte Angst, nicht in der Lage zu sein, mit ihr zu schlafen. Er schleppte die Müdigkeit seit Tagen mit sich, und sie hielt ihn inzwischen an jedem Teil seines Körpers fest. Doch es gelang ihm, und er war erleichtert und auch dankbar, daß sie ihn so sehr begehrte.
»Es ist genau der Eisprung«, sagte Trudi und drückte ihn von sich weg. »Sie sollen ihr Enkelkind haben.«
Georg rollte sich zur Seite, und kurz vor dem Einschlafen dachte er, daß es vielleicht Jos gewesen war, den Trudi mit dieser Inszenierung gemeint hatte.
»Die Wohnung gehörte ihnen nicht mehr«, sagte Georg, »an die Bank verpfändet. Seit einigen Wochen.«
»Wo haben sie das Geld gelassen? Im Kasino?«
»Woher weißt du das?«
»Für Heroin werden sie es schon nicht ausgegeben haben«, sagte Jos. Er spannte die Schnur und knotete sie an den Nagel. Er hängte auch die Bilder auf. Er hoffte, die Rekonstruktion könne Georg erfreuen. Er fand ihn feindselig, seit er aus Nizza zurückgekommen war. »Und woher weißt du
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