Das singende Kind
sie dann ein bißchen später.«
Trudi hatte gestern Bilder auf Georgs Schreibtisch gefunden. Tote Kinder. Berge von toten Kindern. Georg hatte ihr den Tod ins Haus geholt. Vielleicht war das Kind in ihrem Bauch ein Opfer geworden, ehe es leben durfte.
Wir reiten auf hölzernen Pferden, sang Trudi. Die Wahnideen, mit denen Georg sie verfolgte. Jos. Georg war gefährlich. Und werden im Kreise gedreht, sang sie.
»Sie haben das richtige Tempo heute«, sagte die Weil, »dann sind Sie gar nicht so schlecht.« Ihre weißen Nägel knallten auf die Tasten. »Wenn wir wieder so gut verdienen, kaufen Sie sich ein Kleid, in dem Sie vorsingen können.« Sie sah Trudi aufmerksam an, um die Wirkung ihrer Worte zu sehen. »Im Leben kommt alles in Schüben. Sie sind jetzt dran.«
Trudi war aufgepeitscht. Genügend aufgepeitscht, um in ein Kaufhaus zu gehen und hinzufallen. Sich den Bauch zu halten.
»Vielleicht können wir das Kaufhaus verklagen«, sagte die Weil, »ein zu glatter Boden. Eine Schwangere fällt. Kommt zu Schaden. Verliert das Kind.«
»Ich habe das Kind schon verloren«, sagte Trudi.
»Sie haben sich die Schwangerschaft eingebildet«, sagte Cilly Weil und hätte das gern zurückgenommen. Trudi schien in sich zusammenzufallen. Die Vorarbeit war umsonst gewesen.
»Mütterchen. Stellen Sie sich nicht an. Sie wissen doch, wie ich zu Kindern stehe.« Cilly Weil lachte noch heller als sonst.
»Es war ein Mädchen«, sagte Trudi.
Die Weil sah sie an. »Wenn Sie schwanger waren, dann höchstens ein paar Wochen.«
»Ein rundes Köpfchen und helle Haare.«
»Und Sie haben es Trudi genannt.«
»Nein«, sagte Trudi und klang verärgert. »Wollen wir singen oder stehlen gehen?«
Cilly Weil seufzte auf. »Geld finden«, sagte sie.
Feinsliebchen, du sollst mir nicht barfuß gehn. Georg schlug die Töne an und erkannte das E und das A und dachte auch an das Gis. Doch er schaffte es nicht, die Viertelnoten deutlich genug von den Achtelnoten zu unterscheiden, und was er unterschied, blieb in den altersschwachen Tasten hängen, und das Feinsliebchen fand das Tempo nicht und hörte sich nach einer faden Tonübung an.
Georg nahm die Noten vom Klavier und schmiß sie auf das Bett. Er war ohne Zweifel der erste gewesen, der das Heft aufgeschlagen hatte. Die Seiten hingen noch aneinander und mußten vorsichtig getrennt werden. Trudi hatte nicht einmal hineingeguckt.
Das Klavier. Für Trudi gekauft. Georg rückte es von der Wand und sah die Stoffbespannung an, die straff hing und nicht mürbe zu sein schien. Das Wurzelholz hatte einen warmen goldenen Ton, und die Maserung war gleichmäßig. Es ließ sich sicher als Möbel verscherbeln. Vom Inneren befreit. Zur Bar umgebaut. Wie in der Wohnung des Agenten, den Jos aufgerissen hatte, um ihn für einen Weltgeschichtscomic zu gewinnen. Es war mißlungen.
Achthundert Mark hatte er für das Klavier bezahlt. Die konnte er allemal kriegen. Die Miete. Dach über dem Kopf. Auch noch im November. Trudi sollte den Ausverkauf spüren.
Du zertrittst dir die zarten Füßlein schön. Sollte Trudi doch barfuß gehn. Georg empfand fast Freude bei dem Gedanken. Schadenfreude. Er fing an, ein schlechter Mensch zu sein. Dabei hatte er sich so gern beim Gutsein zugeguckt.
Wahrscheinlich kam er doch viel mehr nach seiner Mutter, als er wahrhaben wollte. Georg klappte den Klavierdeckel zu und schaltete das Licht im Schlafzimmer aus. Lieber in die Küche gehen und kochen. Zu großen Masochismus hielt auch er nicht aus.
Trudi schob sich das Thüringer Mett in den Mund und schluckte es hinunter, ehe sie die vierte Treppe nahm. Ein Bröckchen war ihr in den Mantel gefallen, und sie knöpfte ihn auf und nahm es von ihrer Brust. Sie knüllte das Schlachterpapier zusammen und steckte es in die Tasche. Als sie die Tür aufschloß, arbeitete ihre Zunge noch an den Fleischfasern, die zwischen den Zähnen hingen.
Zum Schluß waren sie bei Penny gelandet. Das Kaufhaus nebenan hatten sie fluchtartig verlassen. Cilly Weil hatte sich dann eine Flasche Weinbrand gekauft und Trudi ein Pfund Thüringer Mett.
Ihr war schlecht. Zum Kotzen schlecht. Das letzte Drittel Mett drehte ihr den Magen um. Der Geruch der Sojabratlinge, die Georg in der Pfanne hatte, gaben ihr den Rest.
Trudi ging in die Küche. »Ich will nichts essen«, sagte sie und hatte noch nicht guten Abend gesagt.
Georg ließ den Pfannenheber fallen und öffnete den Deckel des Mülleimers. Doch er zögerte noch.
»Mir ist schlecht«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher