Das Skript
»Ich ließ mich jedenfalls versetzen. Georg Stohrmann arbeitete in der gleichen Abteilung, und ich wollte es ihm wie mir ersparen, dass wir uns täglich sehen. Wir verloren uns aus den Augen, in den letzten zehn Jahren bin ich ihm recht selten begegnet, zwei-, dreimal bei Einsätzen, ein paarmal im Präsidium, und dabei konnte ich es immer so arrangieren, dass wir keine direkten Berührungspunkte hatten. Allerdings gab es immer mal wieder seltsame
Zufälle
, die dazu führten, dass ich miese Dienste bekam oder die unangenehmsten Fälle. Tja, und vor ein paar Tagen wurde ich dann in die BAO Heike als stellvertretende Leiterin abgestellt. Stohrmann hat mich explizit angefordert, und dafür kann es nur einen Grund geben: Er möchte mich bloßstellen, er möchte allen zeigen, dass ich unfähig bin und damals den Tod seines Bruders verschuldet habe.«
»Wenn er seine Privatfehde während der Dienstzeit auslebt und damit unsere Ermittlungsarbeit stört, zeigt er allerdings eher, dass
er
unfähig ist.«
Sie stieß ein kurzes Lachen aus. »Ja, das sehen … das siehst
du
so. Ich denke, er ist da ganz anderer Meinung.«
»Warum hast du den Posten als seine Stellvertreterin nicht abgelehnt?«
»Er hätte daraus abgeleitet, dass ich ein schlechtes Gewissen habe oder vielleicht sogar Angst vor ihm.«
»Hast du Angst vor ihm?«
Sie überlegte eine Weile, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das habe ich nicht. Ich weiß, dass ich damals nicht geglänzt habe, aber das, was mir passiert ist, hatte nichts mit Unfähigkeit zu tun und hätte wahrscheinlich auch einem erfahrenen Kollegen passieren können. Damit konnte einfach niemand rechnen.«
»Gut, dass du das so siehst.«
Wieder stieß sie ihr kurzes, humorloses Lachen aus. »Das Resultat unendlicher Sitzungen beim Polizeipsychologen.«
Eine Weile aßen sie schweigend weiter, bis Matthiessens Handy klingelte. Das Gespräch dauerte etwa zwei Minuten, in denen Erdmann sich seiner Pizza widmete. Dann legte Matthiessen auf und sah wieder ihren Kollegen an. »Ein anonymer Anruf im Präsidium, eine Frau, im Hintergrund Musik. Sie hat eine Internetadresse durchgegeben und einen Usernamen – Doktor S. –, nach dem wir suchen sollen. Es handelt sich um eine Plattform, auf der man eigene Kurzgeschichten und Erzählungen veröffentlichen kann. Die Kollegen haben nachgeschaut und unter dem Namen zwei Kurzgeschichten gefunden.«
»Und? Was soll uns das helfen?«
»Es ist der User, der interessant ist. Über seine Mailadresse haben die Kollegen schnell seine Identität feststellen können.«
»Ja, und?«
»Die Texte stammen von Dirk Schäfer, Nina Hartmanns Freund.«
IV
Zuvor
Ihre schmerzbenebelten Sinne registrierten, dass die Tür irgendwo hinter ihr geöffnet wurde, langsam, denn der Lichtschein tastete sich wie ein Dieb in den Raum.
Als sie hörte, wie die Schritte näher kamen, schloss sie die Augen. Vielleicht würde das Monster sie am Leben lassen, wenn sie es nicht gesehen hatte? Vielleicht gab es dann keinen Grund, sie zu töten? Wenn sie doch gar nicht wusste … wenn sie doch keine Beschreibung abgeben konnte. Vielleicht – Da war es wieder, das fürchterliche Schnaufen. Über ihr. Sie glaubte zu spüren, dass das Monster ihren Rücken betrachtete. Es war wie ein eiskalter Windhauch an der Stelle, von der auch dieser unerträgliche Schmerz ausging.
Nicht wieder
, dachte sie. »Bitte … nicht«, flehte sie. In Erwartung des Schmerzes hielt sie instinktiv den Atem an und presste die Zähne aufeinander, schnappte aber nach wenigen Sekunden nach Luft, weil sie glaubte zu ersticken. Es war wieder die Angst, die ihr die Kehle zudrückte. Neben ihr tauchte eine Hand auf, sie hielt ein Wasserglas. Eine andere Hand legte sich auf ihre Stirn und bog ihren Kopf nach hinten, das Glas berührte ihre Lippen. Erst als die ersten Tropfen in ihrem Mund ankamen, spürte sie, wie groß ihr Durst gewesen war. Gierig trank sie, verschluckte sich, hustete, Wasser lief über ihr Kinn, aber sie trank weiter, bis ihr das Glas wieder weggenommen wurde. »Damit du mir noch ein bisschen frisch bleibst«, sagte eine Stimme leise an ihrem Ohr. Ihr Verstand krallte sich an diesen Worten fest und an der Stimme, er brüllte ihr etwas zu, aber sie konnte es nicht fassen, denn mit einem Mal war ihr Kopf wieder frei, und sie schlug mit dem Kinn auf die harte Unterlage. Sie stöhnte auf vor Schmerz, und der kupferne Geschmack von Blut breitete sich in ihrem Mund aus. Dann war der dunkle
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