Das Skript
letzten Haarsträhne, bis hin zum kleinsten Pickel auf der Stirn. Sie haben gelebt. Und an dieser Stelle kommt nun mein Lektor ins Spiel. Das hat ihm offensichtlich nicht gefallen, und so hat er meine Beschreibungen zusammengestrichen. Mit jedem Satz, den er herausnahm, wurden die Personen lebloser und blasser. Das ist so, als würde man in ein Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds gehen und die Figuren dort mit einem Föhn bearbeiten. Die Konturen würden verlaufen, bis man irgendwann nicht mehr erkennen könnte, wer dargestellt werden soll.«
»Und mit welcher Begründung hat Ihr Lektor das getan?«, wollte Matthiessen wissen.
Erdmann fand, dass der Grund auf der Hand lag: Der Lektor hatte Jahns Text geändert, weil er nicht gut war. Aber er war auf Jahns Antwort gespannt, und er war sicher, dass der Autor das anders darstellen würde.
»Ehrlich gesagt, es kam mir so vor, als ob der Lektor vor allem daran interessiert war, seinen Willen gegen mich durchzusetzen. Denn leider mochten wir uns vom ersten Tag an nicht, mein Lektor und ich.«
»Ich kenne mich im Verlagswesen und in der Buchbranche nicht aus. Haben Sie denn kein Mitspracherecht, was Änderungen an Ihrem eigenen Manuskript betrifft?«, fragte Matthiessen weiter.
»Doch, ich hätte meine Zustimmung verweigern können. Mit dem Resultat, dass der Lektor auf den Streichungen bestanden hätte und das Buch letztendlich so nicht veröffentlicht worden wäre. Im schlimmsten Fall wäre der Vertrag geplatzt, und ich hätte dem Verlag die Vorauszahlung zurückerstatten müssen. Das konnte ich mir aber finanziell nicht erlauben.«
»Kurzum: Ihre Bücher sind also nicht mehr das, was Sie eigentlich geschrieben haben«, stellte Matthiessen fest. »Und die Schuld für Kritiken wie die von Frau Hartmann sehen Sie in erster Linie bei Ihrem Lektor?« Das war keine Feststellung, sondern eine Frage.
Jahn überlegte nur einen Moment. »Ja, leider ist das so, denn das meiste von dem, was kritisiert wurde, hat er zu verantworten.«
Matthiessen nickte. »Würden Sie uns noch den Namen Ihres Verlags und Ihres Lektors nennen? Wir werden uns eventuell auch mit ihm unterhalten müssen.«
Jahn verstand und machte die Angaben. Der Lektor hieß Werner Lorth, mit »te ha«, der Name des Verlages sagte weder Erdmann noch Matthiessen etwas. Als Jahn eine Hamburger Adresse nannte, fragte Erdmann überrascht: »Ist das Zufall? Ich meine, Ihr Umzug ausgerechnet dorthin, wo Ihr Verlag seinen Sitz hat.«
»Ja, das ist Zufall, wie ich schon erwähnte, habe ich das Haus geerbt. Ähm … ich habe noch eine Bitte. Falls Sie mit Werner Lorth reden, dann tun Sie mir einen Gefallen und erzählen ihm nicht, was ich gesagt habe. Ich hoffe, dass der Verlag mein neues Manuskript annimmt, was Werner aber zu verhindern wissen wird, wenn er hört, was ich Ihnen erzählt habe. Er ist ziemlich rechthaberisch und sitzt leider am längeren Hebel.«
»Gut.« Matthiessen stand auf, und auch Jahn erhob sich. »Wir melden uns wieder bei Ihnen. Und bitte – denken Sie noch mal über diese Sache mit dem ersten Päckchen nach. Vielleicht haben Sie ja doch noch eine Idee, warum der Täter gerade in diesem Punkt von Ihrem Roman abweicht. Falls Ihnen etwas einfällt, rufen Sie mich bitte sofort an.« Erdmann steckte seinen Notizblock weg und folgte seiner Kollegin nach draußen.
»Und?«, fragte Matthiessen, als sie über den Pflasterweg das Grundstück verließen.
»Hm … Er ist schwer einzuschätzen. Er scheint an einer ausgeprägten Form von Selbstüberschätzung zu leiden. Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, man kann ihn nicht richtig packen. Aber grundsätzlich – ich sagte es schon mal – ist er für mich ein Spitzenkandidat.«
»Wir müssen uns dringend mit diesem Lektor unterhalten. Ich möchte wissen, ob es stimmt, was Jahn über ihn und seine Methoden erzählt hat. Und wir brauchen unbedingt noch mehr Informationen über Jahn.«
»Einerseits traut man ihm so was nicht zu, aber … er hat den größten Nutzen, wenn mit
Das Skript
nun das Gleiche passiert wie vor vier Jahren mit dem anderen Buch. Und ich bin mir sicher, dass die Verkäufe in die Höhe schnellen werden.«
»In dem Punkt magst du recht haben. Aber nicht nur Jahn wird von den Buchverkäufen profitieren. Der Verlag verdient mindestens genauso gut daran, wenn nicht besser.«
VII
Zuvor
Mit aller Willenskraft hielt sie sich aufrecht, obwohl es mittlerweile keine Stelle an ihrem Körper mehr gab, die nicht schrecklich
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