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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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im Atelier erzählt hatte, daran hatte Annegret nicht einen Moment geglaubt.
     

Im Moor braun und modrig
    Jakob Mangold schob seine olivgrünen Stiefel auf die Ornamente des umgestürzten Wurzelwerks. Das Holz war weich durch die Feuchtigkeit, die sich hier eingenistet hatte. Sein Vater hatte ihm früher einmal erzählt, in solchen toten Baumstümpfen lebten kleine Kobolde mit funkelnden Augen. Als Jakob fragte, wie die denn aussähen, hatte sein Vater diese Geister auf ein Blatt Papier gezeichnet. Er erinnerte sich noch so genau an die kräftigen Hände, die stets so leicht und sensibel den Bleistift gehalten hatten und wie von selbst mit fließenden Bewegungen Gestalten zu Papier brachten. Sein Vater hatte ihm die Skizze gereicht und gesagt, er solle sie behalten, sie solle ihn immer an diese gemeinsamen Tage in der Natur erinnern. Und als kleiner Junge macht man das ja auch, wenn einem der wichtigste Mensch so etwas sagt. Seit seiner Kindheit hatte Jakob diesen Bleistiftkobold stets in seinem Portemonnaie getragen, in diesem Fach, wo normalerweise Fotos von Liebsten und Familienangehörigen ihren Platz finden. Das war noch zu der Zeit gewesen, als er geglaubt hatte, sein Vater sei für immer verschwunden. Und auch jetzt, wo er es besser wusste, hatte er es noch nicht geschafft, das inzwischen faserig gewordene Blatt fortzuwerfen.
    «Wir sehen hier die typische Flora eines Hochmoores», begann er seinen Vortrag. Inzwischen waren die Führungen durch das Naturschutzgebiet für ihn reine Routine, er wusste, wie man die Aufmerksamkeit der Schulklassen oder Seniorengruppen auf sich zog und sie auch während des dreiviertelstündigen Rundganges behielt. Man musste das Moor nur als etwas Lebendiges präsentieren, etwas mit Seele. Dann hingen einem die Menschen an den Lippen.
    Heute waren es die Postrentner aus Delmenhorst, die ihren Betriebsausflug nach Ostfriesland gemacht und eine Expedition ins Moor gebucht hatten. Einige zückten die Kameras, obwohl es in dieser Gegend hier nicht wirklich viel zu sehen gab, was auf Fotografien interessant erschienen wäre. Die wirklichen Sensationen ließen sich nicht in einer Momentaufnahme ablichten, denn sie lagen im Lauf der Zeit, im Fluss der Veränderung. Organisches Material starb, verendete in der Feuchtigkeit, zersetzte sich und gab nach abertausend Jahren Nährstoffe frei für neues Leben. So etwas konnte man nicht fotografieren. Doch die Rentner würden es – wenn überhaupt – erst gegen Ende seines Vortrages verstehen. Dann würden sie das Knipsen sein lassen und nur noch staunen.
    «Hochmoore sind eine geographische Besonderheit, denn sie sind extrem nährstoffarm, extrem nass und extrem sauer, ihr pH-Wert ist mit dem von Essigsäure zu vergleichen. Aus diesem Grunde finden sich hier nur wenige Pflanzen, die sich diesen erschwerten Bedingungen im Lebensraum Moor anpassen konnten.»
    «Und die wären?», fragte ein Mann mit karierter Kappe und Wanderstock.
    «Wir finden hier keine hohen Bäume, dafür sehen wir am Boden Pflanzen, die es sonst nirgendwo zu entdecken gibt. Wahre Überlebenskünstler, die das Beste aus dem gemacht haben, was das Niemandsland zu bieten hat.»
    Die Senioren folgten Jakobs Blick und betrachteten die sumpfige, fast schwarze Erde neben dem Trampelpfad. Ein Teppich aus rotgrünen Pflanzen breitete sich vor ihnen aus.
    «Das wurzellose Torfmoos nimmt die wenigen Nährstoffe auf und speichert zudem sehr viel Wasser. Die Ausscheidungen der Pflanze versauern die Umgebung, mit diesem unwirtlichen Klima hält sich das Moos die Konkurrenz vom Leib. Wenn das Moos abstirbt, bleibt es in seinem Umfang bestehen und wirkt wie ein Schwamm, auf dem sich neue Moose niederlassen. Dadurch ergibt sich die Aufschichtung, dem das Hochmoor seinen Namen verdankt.»
    «Dann ist diese Pflanze ja so etwas wie ein Landschaftsarchitekt», sagte einer aus der Gruppe, und Jakob musste ihm beipflichten.
    «So ist es. Und wenn wir das Ganze hier schon mit Städteplanung vergleichen, dann kann ich Ihnen auch so etwas wie den … gemeingefährlichen Immobilienhai vorstellen.»
    Nun waren alle Augen interessiert auf ihn gerichtet. Jakob ging ein paar Schritte vom Weg ab, schob einen Busch Heidekraut zur Seite und zeigte auf eine winzige Blume, nicht wirklich hübsch, mit einem streichholzähnlichen Kopf, von dem kleine, klebrige Härchen wie elektrisiert abstanden.
    «Man mag es kaum glauben, aber wir haben hier eine fleischfressende Pflanze im ostfriesischen Moor. Den

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