Das Sonnentau-Kind
zusätzliches Argument für einen Selbstmord.»
Wencke schnellte herum und blitzte ihn an. «Wie kommst du denn darauf?»
«Ich stell mir das nur gerade so vor: Aurel hat Liebeskummer, er will nicht in sein elendes Heimatland zurück, und dann fühlt er sich noch krank und müde in den Knochen. Drei Faktoren, die sich hervorragend in das Gesamtbild einfügen …»
Wencke lachte auf und drehte sich demonstrativ in eine andere Richtung.
Eigentlich mochte Sanders derlei Spielchen nicht. Dieses schnippische Lachen, wenn man eigentlich stocksauer auf den anderen war. Und umgekehrt dieses biestige Zanken, wenn man sich eigentlich mochte. Wenn man sich eigentlich schon lange im Klaren darüber war, dass man den anderen vermissen würde, gäbe es ihn nicht.
Wencke holte tief Luft. «Ich habe bereits gesagt, wir sollten das Fahrrad suchen. Wenn Aurel damit unterwegs gewesen ist, dann könnte die Spurensicherung bestimmen, wo genau er sich durch das ostfriesische Gehege geschlagen hat, bevor er dann in diesem Schuppen einen Strick um den Hals trug. Denn ihr könnt mir alle sagen, was ihr wollt. Ich bleibe dabei, es passt nicht zusammen. Und wenn ihr keine Zeit oder Lust habt oder die Veranlassung dazu seht, der Sache auf den Grund zu gehen, so mache ich es eben im Alleingang.»
«Nun», sagte Sanders mit betonter Ruhe. «Du hast ja morgen deinen freien Tag. Dann wünschen wir dir alle viel Spaß bei deinem Moorspaziergang. Wenn du deinen Sohn mitnimmst, wird vielleicht noch ein netter kleiner Familienausflug daraus. Und jetzt möchte ich Strohtmann bitten, uns über die neuen Entwicklungen beim Penny -Fundament zu berichten. Haben die Zeugenaussagen einen Hinweis auf das Verschwinden …» Axel sprach wie automatisch weiter, er registrierte, wie die Kollegen den einen Ordner zu und den neuen aufklappten. Doch seine tatsächliche Aufmerksamkeit gehörte Wencke, die sich auf die Unterlippe biss, bis die Haut darunter weiß wurde.
Wenckes Garten die letzten Sonnenstrahlen wärmen die Steine
Emil, schon im mollig weichen Schlafanzug, war gerade selig auf Wenckes Arm eingeschlafen, sein Gesicht ihrem Hals zugewandt. Sie spürte die Wärme seines ruhigen Atems, Spucke rann aus seinem Mundwinkel und durchnässte den Kragen ihrer Jeansjacke. Anivia räumte das Geschirr zusammen. Sie hatte heute den Terrassentisch gedeckt, zum ersten Mal in diesem Jahr gab es Abendbrot im Freien. Auf der Fensterbank flackerten ein paar Kerzen in ihren Windgläsern, die sie während ihrer Schwangerschaftskur im Teutoburger Wald vor anderthalb Jahren mit bunten Servietten beklebt hatte. Landgeräusche als Untermalung, das Scheppern eines Traktors, die Kühe an der Melkstation einen halben Kilometer entfernt. Ein schöner Moment, friedlich und harmonisch. Ein Bilderbuchfeierabend.
Hätte es sein können. Ein Tag ging zu Ende, ein Tag, von dem sich Wencke weit mehr erhofft hatte, als dass er über einem Ordner voller veralteter wie nutzloser Zeugenaussagen in einem aussichtslosen Fall endete.
Das Thema Aurel Pasat war im Kollegenkreis nur noch einmal kurz und bündig abgehandelt worden. Ihre Argumente, ihre Befürchtungen waren von Axel Sanders wie eine Staubschicht vom Tisch gefegt worden. Und der Gipfel der Frechheit waren Axel Sanders Abschlussworte gewesen: «Morgen hat Wencke ihren freien Tag, liebe Kollegen. Wollen wir ihr nicht alle an dieser Stelle einmal offiziell sagen, wie schön es ist, sie wieder in unserer Mitte zu haben? Damit sie uns morgen beim Windelwechseln in guter Erinnerung behält …»
Ein Gutes hatten Axel Sanders’ Unverschämtheiten: Sie motivierten Wencke, vor ihrer Heimkehr noch auf eigene Faust nach Moordorf zu fahren. Und tatsächlich hatte sie das blaue Fahrrad unweit des Schuppens im Gebüsch gefunden. Es war an einen dünnen Baum gekettet, es wäre für die Spurensicherung ein Leichtes gewesen, es dort zu entdecken. Wenn sie überhaupt danach gesucht hatten. Unter der Stange war eine Halterung angebracht, die darin verstaute Getränkeflasche erwies sich als noch knapp gefüllt. Wenn Aurel Pasat nach so viel körperlicher Ertüchtigung nun tatsächlich unter Mineralstoffmangel gelitten hatte, der seiner angeblichen Lebensmüdigkeit noch Vorschub geleistet hätte, dann wäre doch wahrscheinlich kein einziger Tropfen mehr in der Flasche verblieben. Es war ihr übrigens schon vorhin im Sitzungszimmer unglaubwürdig erschienen, dass ein Mann in Aurels Alter, der laut Aussage seiner Gastfamilie jeden Tag stundenlang
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