Das Sonnentau-Kind
vergangenen Woche hinter sich gebracht, Holländer hatte zwölf junge Kerle mit hochgekrempelten Ärmeln kommandiert, unter ihnen auch Aurel. Alle waren voller Arbeitseifer in ihrem Atelier aufgetaucht, alles war in weniger als einer Dreiviertelstunde erledigt gewesen.
Morgen Mittag, so hatte Sebastian gestern erzählt, wollte dann noch ein junger Mann, irgendein Naturschutz-Zivi, zum Museum kommen, um gemeinsam mit ihr die letzten Detailarbeiten zu bewerkstelligen. Er hatte sie gestern, als sie noch auf Spiekeroog gewesen war, auf dem Handy angerufen, ein wenig rumgestottert, und obwohl sie das Fixieren der Skulpturen und das Anbringen der Schilder am liebsten allein machte, hatte sie sich nun trotzdem mit ihm verabredet. Wer weiß, wozu ein junger, beweglicher Naturbursche vielleicht noch gut sein konnte. Das ewige Bücken und Heben durfte sie ihm dann ja getrost überlassen.
Die Skulpturen waren die letzten Tage in einem der Betriebslaster der Kompostierwerke gelagert gewesen, und nun gruselte es Annegret, wenn gleich die Verriegelung zur Seite geschoben und die Tür geöffnet wurde. Eigentlich hatten sie und die Helfer alle Objekte mit Seilen – mit diesem kratzigen braunen Hanfseil aus ihrer Werkstatt – befestigt und die empfindlichen Stellen zusätzlich mit Schaumstoffplatten geschützt. Es dürfte nichts verschoben oder gar beschädigt sein.
Trotzdem bangte sie um ihr Werk. Die Ladung dieses Gefährts stellte ja im Grunde genommen den Löwenanteil ihrer Arbeit der letzten zehn Jahre dar. Sie hatte zwar auch Projekte zu anderen Themen gemacht, Auftragsgeschichten für Sparkassenfoyers oder sonstige Geschäftsräume, doch das Motiv «Gestaltenwechsel–Wechselgestalten» war ihr in dieser ganzen Zeit das Wichtigste gewesen. Ihr Herzblut steckte darin. Damals, als es ihr noch so schlecht ging, hatte sie mit dem «Phönix» begonnen, sie hatte das erste Mal ein Schweißgerät in den Händen gehalten, tage- und nächtelang gearbeitet, Flügel und Körper und Asche, weil es ihr so wichtig war, diese Skulptur zu vollenden. Es war etwas anderes gewesen als die Arbeit mit Holz, Speckstein oder Acryl. Sie hatte die Metallplatten verbunden, hatte den gleißend blauen Feuerstrahl immer behänder über die Nahtstellen gehalten, und irgendwann hatte sie gespürt: Dies war ihre Kunst. Dies war ihr Element. Es war ein wichtiger Moment gewesen, mehr als nur ein Aha-Erlebnis. Sie würde es heute am ehesten als Erfüllung beschreiben. Damals, als die schlimme Zeit endlich vorbei war, als sie Sebastian kennenlernte, als sie beschlossen zu heiraten, als sie die Kinder adoptierten. Und bei jeder dieser Stationen hatte sie ein Kunstwerk geschaffen. Ganz persönlich.
Nun stand in ihrem Atelier nur noch diese unvollendete Gestalt, die sie «Rumänien» nennen wollte und die ihre Empfindungen für Aurel zum Ausdruck brachten.
Es hatte heute keine Minute gegeben, in der sie nicht an ihn gedacht hatte. Sowohl zärtlich und voller Trauer wie auch misstrauisch: Warum hatte er sich unter Vorspielung falscher Tatsachen diese Medikamente besorgt? Hatte sie ihn wirklich gekannt? Sie spürte genau, sein Tod und die vielen Fragen, die er aufwarf, würden die Skulptur ganz anders aussehen lassen, als sie ursprünglich auf Spiekeroog gedacht hatte. Würde sie es schaffen, «Rumänien» nach alledem noch ein Gesicht zu geben? Sollte es aussehen wie Aurel? Wie hatte er eigentlich ausgesehen? Es tat weh, darüber nachzudenken. Sie wusste, die Arbeit an der Figur konnte ihr helfen, diesen Schmerz zu überwinden, weil sie schon so oft Schmerzen in ihrer Kunst verarbeitet hatte. Sobald die Skulptur fertig war, würde sie einen Platz bei den anderen bekommen. Erst dann wäre die Ausstellung hier auf dem Freigelände des Moormuseums komplett. Zumindest fürs Erste. Es ging ja immer weiter, das Leben, immer neue Stationen warteten in der Zukunft, immer neue Inspirationen für ihre Hände, das Schweißgerät und das wunderbar riechende Metall.
«Hier oder weiter rechts?», rief Holländer mit seiner tiefen Bassstimme. Er hatte den «Bettler» auf eine Sackkarre gestemmt und schaute sie ungeduldig an. Sie war so in Gedanken verloren gewesen, hatte er sie vielleicht schon mehrfach angesprochen? Annegret blickte in das Innere des Lkws und bemerkte erleichtert, dass alles noch an Ort und Stelle stand, heil und unbeschädigt.
«Bitte stellen Sie die Figur unter die Birke dort hinten am Zaun. Es wäre hübsch, wenn die aufblühenden Zweige genau über
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