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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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von 120 ist der Zusammenhang zwischen noch höherer Intelligenz und Erfolg nicht mehr so groß. Jemand mit einem IQ von 150 ist in der Theorie viel klüger als jemand mit einem IQ von 120, aber diese zusätzlichen 30 IQ -Punkte bringen kaum messbare Vorteile, was den allgemeinen Lebenserfolg anlangt. Wie Malcolm Gladwell in seinem Buch Überflieger zeigt, haben amerikanische Nobelpreisträger in Chemie und Medizin überwiegend nicht in Harvard oder am MIT studiert, den Universitäten an der Spitze der intellektuellen Leiter. 19 Es reichte, dass sie gute Hochschulen wie etwa das Rollins College, das Grinnell College oder die Washington State University besuchten. Wenn man intelligent genug ist, um eine gute Universität zu besuchen, ist man auch intelligent genug, um herausragende Leistungen zu bringen – auch in Disziplinen wie Chemie und der medizinischen Forschung. Man muss dafür nicht zu den intelligentesten 0,5 Prozent der Bevölkerung gehören. Jay Zagorsky fand in einer Längsschnittstudie mit 7403 Amerikanern, der an der Ohio State University durchgeführten National Longitudinal Survey of Youth, keinen Zusammenhang zwischen hoher Intelligenz und großem Reichtum. 20
    Harrison machte den Fehler, den IQ mit mentaler Leistungsfähigkeit gleichzusetzen. Tatsächlich ist Intelligenz ein Teil der mentalen Leistungsfähigkeit, aber sie ist nicht der wichtigste Teil. Menschen, die bei IQ -Tests hohe Punktwerte erzielen, sind gut darin, logische, lineare und rechnerische Aufgaben zu lösen. Aber um im wirklichen Leben erfolgreich zu sein, muss Intelligenz mit bestimmten Charakterzügen und Anlagen verbunden sein. Denken wir zum Beispiel an einen Soldaten, der körperlich außerordentlich stark ist. Würde man ihn einem Test unterziehen, in dem es um Liegestütze und Klimmzüge geht, würde er darin sehr gut abschneiden. Das Chaos auf dem Schlachtfeld wird er allerdings nur überleben, wenn er dazu noch über Mut, Disziplin, technisches Können, Fantasie und Sensibilität verfügt. In ähnlicher Weise mag eine Philosophin zwar sehr intelligent sein, doch wenn ihr moralische Tugenden wie Aufrichtigkeit, Genauigkeit und Unvoreingenommenheit fehlen, wird sie es im wirklichen Leben vermutlich nicht weit bringen.
    In seinem Buch What Intelligence Tests Miss führt Keith E. Stanovich einige der mentalen Dispositionen an, die dazu beitragen, dass man im Leben Erfolg hat: »Die Tendenz, Informationen zu sammeln, bevor man sich entscheidet; die Tendenz, einen Sachverhalt aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, ehe man zu einem Schluss kommt; die Neigung, gründlich über ein Problem nachzudenken, ehe man reagiert; die Bereitschaft, die Stärke der eigenen Überzeugungen an die Stichhaltigkeit der verfügbaren empirischen Belege zu knüpfen; die Tendenz, über Konsequenzen nachzudenken, ehe man handelt; die Tendenz, Vorteile und Nachteile einer Situation explizit gegeneinander abzuwägen, bevor man eine Entscheidung trifft; und die Bereitschaft zu einer nuancierten Betrachtungsweise und zur Vermeidung kategorischer Urteile.« 21
    Anders gesagt: Es besteht ein großer Unterschied zwischen mentaler Stärke und dem Charakter. Der Charakter ist der Moral eines Menschen sehr ähnlich. Er wird durch Erfahrungen und zielstrebiges Bemühen geformt und bildet gewissermaßen die Blaupause des Geistes.
    Uhren und Wolken
    Der Wissenschaftspublizist Jonah Lehrer erinnert seine Leser manchmal an Karls Poppers Unterscheidung zwischen Uhren und Wolken. 22 Uhren sind übersichtliche, wohlgeordnete Systeme, die mit Hilfe reduktionistischer Verfahren definiert und bewertet werden können. Man kann eine Uhr auseinandernehmen, die Einzelteile vermessen und sehen, wie sie zusammenpassen. Wolken sind ungeordnet, dynamisch, und jede sieht anders aus. Es ist sehr schwer, eine Wolke zu untersuchen, weil sie sich von Sekunde zu Sekunde verändert. Sie lässt sich am besten mit narrativen Mitteln beschreiben, nicht mit Zahlen.
    Lehrer ist der Auffassung, dass eine der großen Versuchungen der modernen Wissenschaft darin liegt, alle Phänomene als eine Uhr zu betrachten, die mit Hilfe mechanischer Werkzeuge und systematischer Verfahren analysiert werden können. Auf die Erforschung der Intelligenz trifft das auf jeden Fall zu. Wissenschaftler haben viel Zeit darauf verwendet, den IQ zu untersuchen, der recht stabil ist und sich gut messen lässt, während der Charakter, der eher einer Wolke gleicht, vergleichsweise wenig erforscht ist.
    Reine

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