Das soziale Tier
Mutmaßer lehren soll, Frager zu werden. Aber so weit kam es nie. Abgesehen davon war Mark für einen 19-jährigen Jungen unwiderstehlich. Er war immer gut aufgelegt, immer umtriebig und immer lustig. Er war das männliche Aushängeschild jugendlicher Vitalität. Nach seinem College-Abschluss unternahm er eine Weltreise, völlig unbekümmert darüber, wie er den Rest seines Lebens gestalten sollte. Seit früher Jugend war er felsenfest davon überzeugt, dass er zum »Allwissenden Hüter des guten Geschmacks« bestimmt war. Er würde sich irgendein Metier aussuchen – Kino, Fernsehen, Musik, Design, Mode oder etwas anderes –, und er würde einer dankbaren Welt seine wunderbare Sicht der Dinge auferlegen.
»Hey, Herr Philosoph!«, rief er eines Tages kurz vor der Abschlussprüfung. »Herr Philosoph« war sein Spitzname für Harold. »Willst du ein Apartment mit mir teilen, während ich eine Weltreise mache?« Also verbrachte Harold die nächsten Jahre damit, ein Apartment mit einem Mann zu teilen, der nicht da war. Marks Schlafzimmer blieb monatelang unbenutzt, nur hin und wieder stand er unvermittelt in der Wohnung und brachte zahlreiche Abenteuergeschichten und Anekdoten über reiche Erbinnen aus Europa von der Reise mit.
Harold machte einen Abschluss in Weltwirtschaftslehre und Internationale Beziehungen. Er fand auch heraus, wie man Vorstellungsgespräche erfolgreich bestand. Statt bei diesen Terminen höflich, respektvoll und zurückhaltend zu sein, kehrte er sein spätabendliches respektloses Ich hervor. Seine gelangweilten Gesprächspartner fanden Gefallen daran, oder zumindest die Personalchefs der Firmen, bei denen er tatsächlich arbeiten wollte.
Nach dem College durchlief er eine Phase des sozialen Engagements, in der er bei Denkfabriken arbeitete, die das Gute in der Welt fördern wollen. So arbeitete er für die Social Change Initiative, die Foundation for Global Awareness und Common Concerns, bevor er als Senior Fellow zu Share stieß, einer von einem alternden Rockstar gegründeten Nichtregierungsorganisation, die im Bereich der Trinkwasserversorgung tätig war. Der Philanthropie im Privatjet überdrüssig, arbeitete er eine Zeitlang als Mitherausgeber verschiedener Magazine wie The Public Interest, The National Interest, The American Interest, The American Prospect, Foreign Policy and Foreign Affairs und National Affairs . Während dieser Tätigkeit brachte er Aufsätze heraus, welche das gesamte Spektrum außenpolitischer Grundsatzpositionen abdeckten, die in ihren Bezeichnungen widersprüchliche Elemente zusammenfügen: praktischer Idealismus, moralischer Realismus, kooperativer Unilateralismus, fokussierter Multilateralismus, unipolare defensive Hegemonie und so weiter. Diese Aufsätze wurden von geschäftsführenden Herausgebern in Auftrag gegeben, die durch die Teilnahme an allzu vielen Davos-Konferenzen wahnsinnig geworden waren.
Oberflächlich betrachtet hörten sich die Positionen spannend an, aber sie waren oft mit einer Menge überflüssiger Recherchen verbunden. Harold hatte die Jahre vor seinem College-Abschluss in anspruchsvollen Seminaren über Tolstoi, Dostojewski und das Problem des Bösen diskutiert. Nach seinem Abschluss bediente er jahrelang einen Canon-Kopierer.
Als er da an dem Kopierer stand und versuchte, sich nicht von dem wandernden grünen Licht der Maschine hypnotisieren zu lassen, wurde ihm klar, dass er zum »Canon-Futter« des Informationszeitalters geworden war. Die Organisationen und Zeitschriften, für die er arbeitete, wurden von dickbäuchigen Erwachsenen mittleren Alters gemanagt, die sichere Arbeitsplätze und eine gewisse gesellschaftliche Stellung hatten. Menschen seiner Altersgruppe dagegen arbeiteten nur vorübergehend hier und schienen hauptsächlich für die Faktenprüfung und den sexuellen Nervenkitzel eingestellt worden zu sein.
Seine Eltern machten sich zunehmend Sorgen, weil ihr Sohn, der das College mittlerweile schon ein paar Jahre hinter sich hatte, sich treiben zu lassen schien. Harolds eigener Gemütszustand war vielschichtiger. Einerseits spürte er kein starkes Bedürfnis, in einen Trott zu verfallen und schon erwachsen zu werden. Keiner seiner Freunde tat das. Sie lebten sogar noch mehr in den Tag hinein als er, verbrachten ihre Zwanziger damit, ein bisschen zu unterrichten und ein bisschen als Aushilfe oder als Barkeeper zu arbeiten. Sie schienen erstaunlich wahllos von Stadt zu Stadt zu ziehen. Städte sind zu den Karriere-Garderoben für
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