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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Studentenwohnheim hatte Harold darum gebeten, mit jemandem zusammengelegt zu werden, der einen schlechten Notendurchschnitt hatte, aber beim Studierfähigkeitstest gut abgeschnitten hatte. Als er sein Zimmer im Wohnheim zum ersten Mal betrat, traf er dort auf Mark, der vor Schweiß triefte und eines jener ärmellosen Unterhemden trug, wie es Marlon Brando in Endstation Sehnsucht anhatte.
    Mark stammte aus Los Angeles. Er war fast 1,90 Meter groß, hatte harte, muskulöse Schultern und ein hübsches dunkles Gesicht. Er trug einen ungepflegten Dreitagebart, und sein Haar war ständig wirr, wie bei einem dieser empfindsamen, supersexy Romanciers, wie man sie beim Schriftsteller-Workshop in Iowa antrifft. Er hatte für spontanes spätabendliches Training bereits ein Rudergerät im Zimmer aufgebaut und sein eigenes Bettgestell mit ins College gebracht – in der Überzeugung, dass Junggesellen immer in ein gutes Bettgestell investieren sollten.
    Mark war bereit, demütigende Abfuhren zu riskieren, um Spaß zu haben. Er gestaltete sein Leben als eine Serie pikaresker Abenteuer, die Adrenalin-Stöße auslösen sollten. So meldete er sich im ersten Studienjahr zum Beispiel zum Spaß beim Golden-Gloves-Amateurboxturnier an, wobei er sich als »Kosher Killer« anpries. Er beschloss, für seine Boxkämpfe nicht zu trainieren, sondern über das Boxen einfach nur zu bloggen. Er wurde von einer Schar Ringgirls begleitet, die als Bestatterinnen kostümiert waren und einen Sarg trugen, als er zum Kampf schritt. Einer der echten Boxer schlug ihn in 89 Sekunden k.o., doch das genügte, um ihn in die Abendnachrichten sämtlicher Fernsehsender der Stadt zu bringen.
    Einen Monat bewarb sich Mark als Kandidat für die Fernsehshow American Idol , im nächsten wollte er Kitesurfen lernen und hing schließlich mit dem Eigentümer einer NBA -Basketball-Mannschaft herum. Er hatte 4000 Freunde auf Facebook, und wenn er ausging, verbrachte er die halbe Nacht damit, zu simsen, wobei er mit verschiedenen Einladungen und Abschleppoptionen jonglierte. Er lebte in einer »Welt starker Gefühle«, wie er das nannte, auf der ständigen Suche nach Adrenalin und bleibenden Erinnerungen.
    Harold war sich nicht sicher, wie ernst er seinen Mitbewohner nehmen sollte. Mark hinterließ überall im Zimmer kleine sarkastische Haftnotizen – »Nur zu! Leg sie flach!« –, die zu seiner eigenen Belustigung dienten. Er erstellte Listen von allem Möglichen: Frauen, mit denen er geschlafen hatte, Frauen, die er nackt gesehen hatte, Leute, die ihn geschlagen hatten, Leute, die gemeinnützige Arbeit verrichteten, auch wenn sie es gar nicht mussten. Eines Tages hob Harold eine Ausgabe von Men’s Health auf, die Mark in ihrem Apartment herumliegen gelassen hatte, und er stieß darin auf einige scheinbar ernstgemeinte Randbemerkungen neben einem Artikel über Körperpeeling: »Wie wahr! … Ganz genau!«
    Ehedem ein Anführer, war Harold jetzt ein Gefolgsmann. Mark war Gatsby und Harold, der früher so durchsetzungsstark gewesen war, war Nick Carraway, der Erzähler. So manche Stunde seiner Jugend verbrachte er damit, über Marks manische Energie zu staunen und hinter ihm herzutrotten, um an dem Spaß teilzuhaben.
    Die Schriftstellerin Andrea Donderi behauptet, dass man Menschen in zwei Typen einteilen könne: die Fragesteller und die Mutmaßer. Fragesteller schämen sich nicht, Bitten zu äußern, und wenn man »nein« zu ihnen sagt, fühlen sie sich nicht gekränkt. Sie laden sich selbst eine ganze Woche als Gast ein. Sie bitten um Geld, sie fragen, ob sie das Auto, ein Boot oder auch die Freundin leihen können. Sie scheuen sich nicht zu fragen, und sie sind nicht beleidigt, wenn man ihnen eine Bitte abschlägt.
    Mutmaßer hassen es, jemanden um einen Gefallen zu bitten, und sie fühlen sich schuldig, wenn sie anderen eine Bitte abschlagen. In der Kultur des Mutmaßens, schreibt Donderi, vermeide man es, eine Bitte zu äußern, es sei denn, man ist sicher, die Antwort laute »ja«. 1 In der Kultur des Mutmaßens sagt man zu jemand anderem niemals unverblümt »nein«. Man macht Ausflüchte. Jede Bitte ist, unabhängig davon, ob man sie selbst äußert oder ihr Adressat ist, mit emotionalen und sozialen Gefahren befrachtet.
    Mark lebte in der Kultur des Fragens, und Harold lebte in der Kultur des Mutmaßens. Dies führte gelegentlich zu Problemen zwischen ihnen. Manchmal dachte Harold sogar daran, sich ein paar Selbsthilfebücher zu kaufen – ein Genre, das

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