Das soziale Tier
nicht verletzen. Sie kündigten den Vertrag mit ihr und wollten ihr nicht wehtun, indem sie es ihr ins Gesicht sagten, also zogen sie sich einfach zurück. Erica begann die Unehrlichkeit des Nettseins zu durchschauen. Hinter dem Wunsch, ihr nicht wehzutun, verbarg sich die mangelnde Bereitschaft, ein unangenehmes Gespräch zu führen. Es war Feigheit, nicht Rücksichtnahme.
Es wurde ruhig im Büro. Für Ericas Mitarbeiter war es schwierig, sie so hilflos zu sehen. Erica konnte zwar keine Angst zeigen, doch alle spürten sie in ihr. »Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist«, sagte sie ihnen ruhig und konzentriert. Aber es kam kein Geld mehr rein. Die Banken zogen die Zügel an. Kreditlinien wurden gekündigt. Sie bezahlte Mitarbeiter mit ihrer Kreditkarte und flehte neue Klienten um Aufträge an.
Schließlich lief der größte Vertrag aus. Sie rief den Vorstandschef an und bat ihn um eine Verlängerung. Es schien so, als hinge die Arbeit ihres ganzen Lebens von einem einzigen Anruf ab. Und der Vorstandschef log sie mit genau den gleichen netten Phrasen an, die auch die anderen verwendet hatten. Es sei nur eine kurze Unterbrechung ihrer Geschäftsbeziehung, sagte er. In einem Jahr oder so würden sie weitermachen. Bla, bla, bla. Sie konnte ihm nicht sagen, dass ihre Firma ohne diesen Vertrag schon nach einer Woche am Ende wäre. Es war das Todesurteil. Trotzdem zitterte sie nicht, als sie den Hörer auflegte. Sie hyperventilierte auch nicht. »So fühlt es sich also an, wenn man scheitert«, dachte sie. Die emotionalen Folgen holten sie nach etwa einer Stunde ein. Sie zog sich auf die Damentoilette zurück und brach in heftiges Schluchzen aus. Sie hatte das starke Verlangen, nach Hause zu gehen und ins Bett zu kriechen.
Am Ende der Woche versammelte sie ihre Mitarbeiter. Sie setzten sich an den Konferenztisch im Besprechungszimmer und ergingen sich in Galgenhumor. Erica sah sie der Reihe nach an – all diese Menschen, die schon bald arbeitslos sein würden. Da war Tom, der ständig einen Laptop bei sich trug und jede bedeutsame Kleinigkeit, die ihm zu Ohren kam, in eine Datei eingab. Da war Bing, die mental so hyperaktiv war, dass sie gerade mal einen halben Satz zu Ende brachte, bevor sie den nächsten begann. Da war Elsie, die keinerlei Selbstvertrauen besaß; Alison, die sich platonisch ein Bett mit ihrer Mitbewohnerin teilte, um Geld zu sparen; und Emilio, der seine Antazida-Tabletten in einer Reihe auf seinem Computer stehen hatte. Menschen waren eigenartiger, als man es sich gemeinhin so vorstellte.
Im Moment der Krise wurde Erica unheimlich ruhig. Sie gab bekannt, dass ihr nichts anderes übrig bleibe, als die Firma dichtzumachen. Aus. Vorbei. Pleite. Sie sprach über die Wirtschaftskrise und sagte ihnen, dass niemand Schuld sei, aber dann sprach sie zu lange, und ihren fielen unwillkürlich Dinge ein, die sie vielleicht doch anders hätte machen können. Da war etwas in ihr, das Probleme mit dem Satz »Keiner hat Schuld« hatte. Es wollte eine konkrete Schuld zuschreiben, ob begründet oder nicht. Sie versuchte, alle mit dem alten Mantra wagemutiger Unternehmer zu trösten, dass es kein Scheitern gebe, sondern Misserfolge lediglich ein Schritt im Prozess des Lernens seien. Aber das tröstete niemanden.
Für ein paar Wochen gab es noch genügend Dinge zu tun. Das Büromaterial verkaufen. Briefe schreiben. Doch plötzlich war keine Arbeit mehr da. Das brachte Erica völlig aus dem Konzept. Sie hatte ihr ganzes Leben lang gearbeitet, und nun brach diese Struktur von heute auf morgen weg. Sie hatte geglaubt, ein wenig Ruhe tue ihr vielleicht ganz gut, aber es war schrecklich. »Kein Verlangen und kein Bedürfnis des menschlichen Geistes ist beständiger und unersättlicher als das nach Übung und Beschäftigung«, schrieb der schottische Philosoph David Hume, »und dieses Verlangen scheint die Grundlage der meisten unserer Leidenschaften und Bestrebungen zu sein.« 1
Ericas Gedanken begannen, sich aufzulösen. Nach ein paar Wochen fiel es ihr schwer, eine schlüssige These zu entwickeln oder ein Exposé aufzusetzen. Sie war ständig erschöpft, obwohl sie nichts tat. Sie sehnte sich nach einer Schwierigkeit, die sie überwinden müsste.
Schließlich begann sie ihren Tagesablauf zu strukturieren. Sie war seit langem Mitglied in einem Fitnessstudio, aber sie war kaum hingegangen, solange sie ihre Firma zu retten versuchte. Jetzt trainierte sie fieberhaft. Jeden Morgen ging sie in einen Starbucks, wo sie sich
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