Das soziale Tier
mit ihrer Aktentasche, ihrem iPhone und ihrem Laptop an einen Tisch setzte. Es war schwer für sie, inmitten all der Erwerbstätigen – wie eine Kranke in einem Land der Gesunden; wie, als wenn sie sich im inneren Exil befände. Sie beobachtete die Masse der Kaffeetrinker, die unbekümmert zurück zu ihren Büros trotteten. Sie hatten Verpflichtungen; Erica hatte keine. Sie wechselte zwischen verschiedenen Starbucks-Filialen, damit es nicht so auffiel, dass sie keinen anderen Platz hatte, zu dem sie gehen konnte.
In einem Beitrag für die Zeitschrift The Atlantic fasst Don Peck die Forschungsergebnisse über die psychischen Kosten der Arbeitslosigkeit zusammen. 2 Langzeitarbeitslose haben ein viel höheres Risiko, an einer Depression zu erkranken, und zwar noch Jahre, nachdem sie arbeitslos wurden. Für den Rest ihres Lebens klammern sie sich viel fester an ihre Arbeitsplätze, und ihre Risikoscheu nimmt zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie alkoholabhängig werden und ihre Ehepartner schlagen, ist gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt stark erhöht. Ihre körperliche Gesundheit verschlechtert sich. Menschen, die mit 30 arbeitslos werden, haben eine um anderthalb Jahre kürzere Lebenserwartung als Menschen, die nie arbeitslos werden. Forscher haben herausgefunden, dass Langzeitarbeitslosigkeit mit den gleichen seelischen Belastungen einhergeht wie der Tod des Ehepartners.
Auch Ericas Beziehung zu Harold verschlechterte sich. Aufgrund seiner Erziehung hing Harolds Selbstwertgefühl sehr davon ab, wer er war. Ericas Selbstwertgefühl hingegen war in hohem Maße davon abhängig, was sie tat. Harold hatte von jeher eine Reihe eher beiläufiger Interessen gehabt, in die er sich nun gern vertiefte. Die ersten Wochen verbrachte er fast nur mit Lesen. Erica aber brauchte ein herausforderndes Ziel, eine Mission. Harold war bereit, jede Stelle anzunehmen, die interessant zu sein schien, und schon bald fand er eine Anstellung als Programmleiter einer historischen Gesellschaft. Erica brauchte eine Stelle, die ihr wieder Führungsverantwortung geben würde. Sie saß in einem Starbucks, rief ihre alten Kontakte an und hielt Ausschau nach einer freien Stelle auf der Ebene eines Vizepräsidenten oder darüber. Die Anrufe wurden fast nie erwidert, und schon bald ließ sie ihre Hoffnungen fahren. Sie begann über Möglichkeiten nachzudenken, sich selbstständig zu machen. Sie konnte einen Smoothie-Franchiseladen, ein mongolisches Grillrestaurant, eine Agentur für Kindermädchen oder einen Gewürzgurken-Zulieferbetrieb aufmachen. Sie konnte eine Firma für Hunde-Betreuer gründen. Das waren allerdings nicht die beruflichen Werdegänge, die sie bislang in Erwägung gezogen hatte.
Nach ein paar Monaten erzählte ihr eine Freundin, dass Intercom, eine Kabelgesellschaft, nach jemandem suche, der bei der strategischen Planung helfen solle. Sie hatte diese Gesellschaft immer gehasst. Der Service war eine Katastrophe, die Handwerker waren schlecht ausgebildet, die Kundenbetreuung arbeitete sehr langsam, und der Vorstandschef war berüchtigt für seine Eitelkeit. Aber das alles spielte jetzt natürlich keine Rolle. Sie bewarb sich.
Der Personalleiter ließ sie warten und begrüßte sie dann mit herablassender Freundlichkeit. »Hier arbeiten die klügsten Köpfe der Welt«, sagte er ihr. »Es macht Spaß, jeden Tag zur Arbeit zu kommen. Es ist wie in dem Buch The Best and the Brightest .«
Erica fragte sich, ob dieser Typ vielleicht die Teile des Buches übersehen hatte, die in Vietnam spielen.
Natürlich begann er, über sich selbst zu reden. »Ich bin es mir schuldig, den höchsten Ansprüchen zu genügen. Ich bin es mir schuldig, herausragende Spitzenleistungen zu erbringen.« Diese Phrase war offenbar eine Art Parole, die zur Firmenpropaganda gehörte. Im weiteren Verlauf des Gesprächs verwandelte er sich in eine kleine Platitüden-Maschine. »Letztlich wollen wir keine Berge versetzen, sondern die besten Win-Win-Situationen schaffen«, sagte er ihr. Offenbar versuchten Leute in dieser Firma immer besonders tiefgründig zu analysieren und Dialoge dabei zu umschiffen.
Erica saß da mit einem aufgesetzten Lächeln. Sie wirkte eifrig und flehend. Sie erniedrigte sich selbst. Als er sie fragte, wieso sie sich ausgerechnet dieses Unternehmen ausgesucht habe, verfiel sie ebenfalls in Business-Platitüden und zahlte es ihm mit gleicher Münze heim. Sie würde sich den Selbstekel bis nach dem Zeitpunkt ihrer Einstellung aufsparen.
Er
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