Das soziale Tier
Versuchspersonen mit einer Gruppe von Menschen (die insgeheim für Asch arbeiteten), die beteuerten, die Linien seien alle gleich lang. Angesichts dieses Gruppendrucks passten sich mindestens 70 Prozent der Versuchspersonen wenigstens ein Mal an und behaupteten, die Linien seien gleich lang. Nur 20 Prozent weigerten sich, sich dieser offensichtlich falschen Behauptung anzuschließen.
Glücksgefühle
Diese Fähigkeit wird nicht in Schulen gelehrt – Verhaltensmuster harmonisch aufeinander abzustimmen, nach Limerenz zu streben und Freundschaften zu schließen. Aber ein glückliches Leben wird durch solche Beziehungen definiert, und ein unglückliches Leben durch das Fehlen solcher Beziehungen.
Emile Durkheim wies nach, dass Menschen mit wenigen sozialen Kontakten viel eher Selbstmord begehen. In seinem Buch Love and Survival wertete Dean Ornish Studien über Langlebigkeit aus und gelangte zu dem Schluss, dass Menschen ohne soziale Kontakte im Vergleich mit sozial aktiven Menschen ein um das Drei- bis Fünffache erhöhtes Risiko haben, vorzeitig zu sterben. 25
Limerenz andererseits kann ein überwältigend erhebendes Gefühl erzeugen. Als der Historiker William McNeill im Sommer 1941 in der U.S. Army war, wurde ihm im Ausbildungslager das Marschieren beigebracht. Schon bald begann dieser Akt des Marschierens mit seinen Kameraden sein Bewusstsein zu verändern:
Wörter reichen nicht aus, um die Emotionen zu beschreiben, die durch die länger andauernde Bewegung im Gleichschritt, die mit dem Drill verbunden ist, ausgelöst werden. Ich erinnere mich an ein überwältigendes Wohlgefühl; ein merkwürdiges Gefühl der Erweiterung meines Selbst, eine Art Anschwellen, ein Überlebensgroß-Werden – und all dies aufgrund der Teilnahme an diesem gemeinsamen Ritual. 26
Millionen von Soldaten haben aufgrund dieser instinktiven Verbundenheit mit ihren Kameraden ihr Leben im Krieg aufs Spiel gesetzt und geopfert. Familien werden oftmals durch dieses Gefühl zusammengeschweißt, das ihnen ermöglicht, die schwersten Krisen zu überwinden. Soziale Beziehungen werden durch die schwächere Spielart dieses Gefühls zusammengehalten, die wir Vertrauen nennen. Und für die meisten von uns nimmt die stärkste Sehnsucht nach Limerenz die Form eines heftigen Verlangens an, mit einem ganz besonderen anderen Menschen zu verschmelzen – wir nennen das Liebe.
Dieser Drang, diese Sehnsucht nach Harmonie ist ein nie endender Prozess – Modell, Anpassung, Modell, Anpassung –, der uns immer weiter führt.
Eros – neu betrachtet
Wenn wir heute das Wort »Eros« hören, denken wir an etwas ganz Bestimmtes und Eingeschränktes: Sex. In Buchhandlungen stehen Erotika getrennt von anderen Büchern. Aber das ist eine reduktionistische Sichtweise des Eros, die wir von einer sexorienierten Kultur übernommen haben. Im griechischen Verständnis ist Eros nicht nur der Wunsch nach Sex, nach einem Orgasmus oder auch nach der Weitergabe unserer Gene. Die Griechen verstanden Eros als das allgemeine Streben nach Vereinigung mit dem Schönen und Vortrefflichen.
Menschen, die von Wollust getrieben sind, wollen Orgasmen miteinander erleben. Vom Eros angetriebene Menschen dagegen wollen eine viel breiter angelegte Verschmelzung. Sie wollen dieselben Emotionen erleben, dieselben Orte besuchen, dieselben Freuden genießen und dieselben Muster im Kopf des jeweils anderen replizieren. Wie Allan Bloom in Love and Friendship schreibt: »Tiere haben Sex, und Menschen haben Eros, und ohne diese Unterscheidung ist exakte Wissenschaft nicht möglich.« 27
Manchmal sagen Menschen, die Neurowissenschaften zerstörten Seele und Geist. Sie führten alles auf Nervenzellen, Synapsen und biochemische Reaktionen zurück. Tatsächlich aber erlauben uns die Neurowissenschaften einen flüchtigen Blick auf den Eros in Aktion. Sie helfen uns, den Tanz der Muster zwischen Freunden und Geliebten zu erkennen.
Harold und Erica waren nie so lebendig wie in den ersten Wochen ihrer Liebe. Eines Nachmittags saßen sie auf dem Sofa in Harolds Wohnung und sahen sich einen Film an. »Ich kenne dich«, sagte Erica nach einer Pause, ganz nebenbei, und blickte Harold fest in die Augen. Ein paar Minuten später schlief sie an Harolds Brust ein. Harold sah sich den Film weiter an und verschob ihren Kopf ein wenig, um es sich etwas bequemer zu machen. Sie schnaufte sanft.
Dann strich Harold mit der Hand über ihr Haar und ihr Gesicht. Ihre Atmung beschleunigte und verlangsamte sich mit dem
Weitere Kostenlose Bücher