Das soziale Tier
Tempo seiner Berührung, aber ihre Augen waren noch immer geschlossen, und sie rührte sich nicht. Harold war noch nie aufgefallen, wie tief sie schlafen konnte. Er verlor jegliches Interesse an dem Film und betrachtete sie, wie sie da in seinem Arm lag.
Er nahm ihren Arm und legte ihn sich um den Hals. Sie spitzte ihre Lippen, was süß aussah, schlief aber weiter. Dann legte er ihren Arm wieder zurück an ihre Seite. Sie kuschelte sich wieder an ihn. Anschließend beobachtete er, wie sie schlummerte, genoss den Anblick ihrer sich hebenden und senkenden Brust, und ein sanftes Gefühl der Fürsorge und des Beschützen-Wollens überkam ihn. »Erinnere dich an diesen Moment«, dachte er.
Es war keineswegs alles perfekt. Beide fanden, dass sie noch immer starke unbewusste Hemmungen hatten, die der ersehnten vollständigen Vereinigung entgegenstanden. Es gab noch immer Reibungen und Konflikte.
Die Sehnsucht nach Limerenz führt nicht automatisch zu perfekten Liebebeziehungen oder einer unbeschwerten, umfassenden Harmonie. Wir verbringen einen Großteil unseres Lebens damit, andere dazu zu bewegen, unsere Muster zu akzeptieren – und uns dieser Art von mentaler Hegemonie anderer zu widersetzen. Ganz allgemein ist es so, dass Menschen nicht nur Kontakte knüpfen, sondern auch um Kontakte wetteifern. Wir konkurrieren miteinander um Prestige, Anerkennung und Aufmerksamkeit, die uns dabei helfen, Bindungen zueinander aufzubauen. Wir versuchen uns gegenseitig an Anerkennung und Beliebtheit zu übertreffen. Das ist die Logik unseres komplizierten Spiels.
Doch insbesondere in den ersten 18 Monaten waren Harold und Erica zutiefst glücklich und wie verzaubert. Sie arbeiteten zusammen. Sie aßen zusammen. Sie schliefen zusammen und passten in fast jeder Hinsicht perfekt zusammen. Sie erlebten die vollkommene Gleichzeitigkeit, die das Wesen aller großen Liebesbeteuerungen ist: »Dich lieben? Ich bin du.« 28 »… wir sind eins im Fleisch. Mich selbst verlieren heißt Dich verlieren.« 29
Kapitel 14 Die große Erzählung
In dem Maß, wie sich Ericas berufliche Situation aufhellte, wurde ihr Haus buchstäblich dunkler. Sie und Harold hatten ihre Unternehmensberatung gegründet, als sie beide 28 waren. Während der nächsten Jahre lief alles bestens. Sie hatten großen Erfolg bei der Akquise von Klienten. Sie stellten insgesamt 18 Mitarbeiter ein. Sie kauften neue Telefone und hübsche Drucker. Ihre gesamte Zeit wurde von Beratungsprojekten in Anspruch genommen – tagsüber, abends und an den Wochenenden. Hin und wieder gönnten sie sich ein bisschen Zeit für Urlaub, für Freunde und auch für Abendessen zu zweit, doch sie hatten nie Zeit für die Arbeiten, die im Zusammenhang mit dem Haus, das sie gekauft hatten, anfielen. Alles begann sich abzunutzen. Wenn eine Glühbirne durchbrannte, blieb sie monatelang ungewechselt in der Fassung, während Erica und Harold lernten, ihren Weg im Dunklen zu finden. Der Kabelanschluss für ihren Fernseher im Untergeschoss ging kaputt, aber keiner von ihnen fand die Zeit, um die Kabelgesellschaft anzurufen und sie zu bitten, sich darum zu kümmern. Fenster bekamen Sprünge. Dachrinnen füllten sich mit Blättern. Teppiche wurden stockfleckig. Sie passten sich an all die nebensächlichen Funktionsstörungen an, bereit, für den beruflichen Erfolg den häuslichen Niedergang in Kauf zu nehmen.
Doch nach etwa vier Jahren geriet die Firma in Bedrängnis. Es kam zu einer Rezession. In physischer Hinsicht änderte sich nichts. Die Gebäude und die Menschen waren da. Aber die Psychologie war eine andere geworden. In einem Moment tönten alle, sie würden gigantische Risiken eingehen, im nächsten Moment schreckten sie davor zurück. Beratungsverträge, die früher als unverzichtbar gegolten hatten, um das langfristige Wachstum zu sichern, wurden jetzt als nutzloser Luxus angesehen. Die Unternehmen strichen sie drastisch zusammen.
Dutzende von Freunden verschwanden aus Ericas Leben. Es waren Klienten, mit denen sie Tennis gespielt, Ausflüge gemacht und die sie zu sich nach Hause eingeladen hatte. Sie arbeiteten bei Unternehmen, die Erica beriet, aber die Bande des Vertrauens und der Freundschaft zwischen ihnen waren echt.
Als die Beratungsverträge gekündigt wurden, lösten sich diese Beziehungen jedoch auf. Ericas witzig-sarkastische E-Mails blieben mit einem Mal unbeantwortet. Anrufe wurden nicht erwidert. Es war nicht etwa so, dass die Menschen sie nicht mehr mochten, sie wollten sie nur
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